Mira und das Buch der Drachen (German Edition)
nichteinmal aus meinem Garten gestohlen? Angeblich weil er mit dem murmelnden Brunnen nicht zurechtkam?«
Mira nickte unbehaglich.
»Diese Mimosen!«, schnaubte Hippolyt. »Beschweren sich ständig, und dann, wenn man sie braucht, lassen sie einen im Stich!«
Mira beobachtete besorgt den Zwerg. Hatte er seine Sprache verloren? Oder waren sie und Hippolyt nicht mehr in der Lage, ihn zu verstehen?
»Kannst du mich noch hören?«, flüsterte sie.
Für einen Moment hätte Mira schwören können, dass der Zwerg ihr einen vorwurfsvollen Blick zuwarf. Voller Betrübnis dachte Mira daran, dass sie ihm versprochen hatte, die steinerne Meerjungfrau, seine geliebte Najade, zu finden. Jetzt stand er vor ihr und war immer noch allein.
Hippolyt hustete. »Seinetwegen bin ich extra in die Stadt gelaufen. Und jetzt ist er völlig nutzlos! So ein weiter Weg. Ich hätte ihn mir wirklich sparen können!«
»Aber warum haben Sie ihn denn mitgenommen?«
»Ich dachte, er könnte mir die Türen öffnen.« Hippolyt deutete auf die bronzene Sonne mit den gewundenen Strahlen, die vor ihnen das Tor verzierte. »Er müsste sich nur mit dieser Sonne hier unterhalten. Aber dieses Ding zieht es ja vor zu streiken.« Er stieß einen leisen Fluch aus und gab dem Zwerg einen Tritt, woraufhin der lautlos in den Schnee kippte.
»Hören Sie sofort auf!«, schrie Mira. Sie bückte sich rasch, pflückte den Zwerg behutsam aus dem Schnee und rettete ihn damit vor einem weiteren Fußtritt Hippolyts. »Lassen Sie ihn in Ruhe!«
»Es ist nur ein Steinzwerg, Mira!«, rief Hippolyt. »Und jetzt, da er nicht mit uns sprechen will, ist er noch nutzloser, als eres ohnehin schon war. Ein hässlicher, dummer Zwerg, vollkommen wertlos für uns und die ganze Welt!«
Und da er seine Wut nicht mehr an der kleinen Figur auslassen konnte, trat Hippolyt gegen die Gitterstäbe des Tores, von dem die bronzene Sonne ungerührt auf ihn herabblickte.
Mira sah auf den Zwerg in ihrer Hand, durch den sich nun ein weiterer großer Riss zog, und bemerkte, dass sie zitterte. Doch es war nicht die Angst, die sie bewegte. Der Zorn schwappte in einer großen Welle in ihr hoch. »Fassen Sie den Zwerg nie wieder an! Ich verbiete Ihnen das, hören Sie?«
Sie stellte den Zwerg neben das Tor und wickelte vorsichtig den Zipfel einer Decke um ihn. Dabei hatte sie das Gefühl, etwas völlig Sinnloses zu tun. Seit wann frieren Steinfiguren? Der Zwerg stand nun bis zum Hals eingemummelt vor ihr. Nur noch sein Kopf war zu sehen.
»Es tut mir so leid!«, sagte Mira und strich ihm vorsichtig über die verbliebenen Zacken seiner abgebrochenen Mütze.
Da spürte sie ein kurzes Beben in der Steinfigur.
»Bitte, hilf uns«, sagte Mira. »Wir müssen durch dieses Tor!«
Sie wartete eine Weile, doch nichts rührte sich. Der Zwerg sah so aus, als hätten Kummer und Gram das, was einmal lebendig an ihm gewesen war, völlig erstarren lassen.
Doch dann klickte es mit einem Mal leise, und über ihren Köpfen erklang eine Stimme wie eine Glocke.
»Nosce te ipsum!«, sprach die bronzene Sonne am Tor.
»Was heißt das?«, fragte Mira.
»Erkenne dich selbst!« Hippolyt hustete. »Immer dieses Geschwätz!«
Erstaunt sah Mira zu der Sonne, die sich nun in der Mitte teilte. Die beiden Flügel des Tores öffneten sich, und Hippolyt, der sich noch immer an das Gitter krallte, stolperte unbeholfen mit dem Tor nach innen. Fast im selben Moment wurde er von dem plötzlich zurückschwingenden anderen Torflügel getroffen und fiel in hohem Bogen in den knietiefen Schnee.
Mira sah verblüfft von der gespaltenen Sonne zu dem reglosen Zwerg. Lächelte er? Nein, sie musste sich getäuscht haben, denn seine Miene war gleich darauf wieder undurchdringlich.
»Ich danke dir!«, flüsterte Mira dem Zwerg leise zu. Dann stand sie auf und trat durch das geöffnete Tor in den Garten, wo sie einen letzten Blick zurückwarf. Der Zwerg drehte ihr seinen zerbrochenen Rücken zu.
Hippolyt hatte sich unter vielen Verwünschungen aus dem Schnee emporgekämpft und stützte sich nun auf Miras Schulter. Seine Hand war schwer und er schnaufte schon nach wenigen Metern. Mira war seine Nähe unangenehm, und sie hoffte, er würde etwas schneller gehen. Doch Hippolyt humpelte nur, und ab und zu mussten sie noch stehen bleiben, da er von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt wurde.
Nach fünfzig Metern, die sie so in quälender Langsamkeit zurückgelegt hatten, befanden sich Mira und Hippolyt vor den vereisten Stufen, die
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