Mira und die verwunschenen Kugeln (German Edition)
etwas Zukünftiges erinnern würde, und dieser Gedanke verwirrte Mira.
Die Kugel lag nun warm und angenehm in ihrer Hand.
Nichts ließ Mira mehr an die Winterbilder denken, die eben noch zu sehen gewesen waren. Die Kugel war ganz grau und stumpf. Oder ... fast ganz grau und stumpf, denn in der Mitte der Kugel war ein weißer Kreis.
Nein, das war kein weißer Kreis, es war ein Fenster. Ein rundes Fenster, wie das Bullauge eines Schiffes.
Doch dieses runde Fenster war nicht auf einem Schiff. Es war in einem Zimmer, das vollgestellt war mit Puppen, kleinen Autos und anderem Spielzeug. Familienbilder hingen an den Wänden und auf dem Boden lagen verstreute Kleidungsstücke.
Ein Mädchen stand an dem Fenster und blickte hinaus.
Miras Herz klopfte – sie war das Mädchen.
Da stand sie. Eine sehr schmutzige Ausgabe ihrer selbst. Sie war nass und rußverschmiert; die Haare hingen ihr in feuchten Strähnen ins Gesicht. Draußen tauchte ein voller Mond die umliegenden Dächer in silbriges Licht. Ein Rabe mit einer einzelnen schimmernden weißen Feder landete auf dem Giebel des gegenüberliegenden Hauses.
Der Rabe schlug traurig mit den Flügeln. Die Mira in der Kugel klopfte gegen die Scheibe. Der Rabe wandte den Kopf und sah Mira an. Ein heftiger Wind bog die Antennen auf dem Dach und ließ eine blecherne Krähe, die sich auf der Spitze eines kleinen Turmes unter ihr befand, sich um die eigene Achse drehen. Nach einer Weile winkte Mira dem Raben zaghaft zu, woraufhin er hochflog und bald hinter den grauen Wolken verschwand. Mira schritt durch das hübsche Kinderzimmer zu dem gemachten Bett. Sie zog einen Koffer hervor, der genauso aussah wie der, den Madame Pythia eben geöffnet hatte. Einen Moment zögerte sie und drehte dann an dem Zahlenschloss.
Mira sah genauer hin.
Erst eine Sieben, dann eine Drei, dann wieder eine Sieben. Und genau wie Madame Pythia ließ sie das Schloss aufspringen und sah hinein.
Mira atmete tief durch.
In dem Koffer lagen, in ein weißes, ein schwarzes und ein lila Seidentuch gewickelt, die drei Kugeln.
Da huschte hinter Mira plötzlich eine Gestalt in das Zimmer.
Mira schrie auf, wie um die Mira in der Kugel zu warnen.
Die Gestalt warf ihren dünnen langen Schatten auf Mira.
»Ich habe dich schon erwartet.«
Das war Mirandas Stimme! Mira schlug sich vor Schreck die Hand auf den Mund. Tatsächlich – in der Kugel standen sich nun Mira und Miranda gegenüber und funkelten sich wütend an. Doch Miranda sah anders aus als die Miranda, die sie kennengelernt hatte. Lag das an den sauber zurückgekämmten Haaren?
»Ich weiß«, sagte Mira leise.
Die schwere Kugel brannte in Miras Hand.
»Und ich nehme diese Kugeln jetzt mit«, erklärte die Mira in der Kugel ruhig.
Miranda sah sie wütend an.
»Genau das wirst du nicht tun. Die Kugeln gehören jetzt mir. Verstehst du? Du und deine Freunde, ihr werdet sie nicht bekommen!«
Da wurde die Kugel wieder so grau, wie sie vorher gewesen war. Nur der weiße Kreis leuchtete und betrachtete Mira wieein böses Auge. Mira schrie auf. Die Kugel war nun ganz heiß und sie schlüpfte ihr aus der verschwitzten Hand.
In diesem Moment kam Madame Pythia unverrichteter Dinge von ihrer Verfolgungsjagd zurück. Die Kugel rollte von Mira weg direkt vor ihre Füße.
Die Wahrsagerin bückte sich so schnell, wie es ihre beträchtliche Leibesfülle zuließ, und hob die Kugel auf. Ihr silbern durchwirktes Tuch war verrutscht, die schwarzen Locken hingen ihr wirr in die Stirn und ihr Atem ging stoßweise.
»Ihr seid mir ein schönes Diebespack!«, rief sie Mira zu. »Keiner wird mir diese Kugeln stehlen, hörst du!« Sie hob triumphierend die Kugel hoch.
Dann hielt sie mitten in der Bewegung inne und starrte Mira neugierig an.
9. Kapitel
in dem nicht nur Mira etwas verschweigt
Mira rannte. Vorbei an der Wahrsagerin, die ihr verblüfft hinterherstarrte, vorbei an den Wohnwagen und dann quer über den Jahrmarkt, wo sie sich zwang, zwischen den vielen Menschen ein wenig langsamer zu laufen. Klapp, klapp, klapp ‒ ihre Schritte klatschten nun gleichmäßig auf das Kopfsteinpflaster. Die Sonne stand schon viel tiefer und die Schatten der Alleebäume schienen mit langen, zittrigen Fingern nach Mira zu greifen.
Sie rannte an den Obstständen vorbei, wo die Verkäufer gerade ihre Waren einpackten und mit kleinen Karren ihre Kisten wegfuhren. Sie rannte, doch schneller als ihre Beine rasten die Gedanken in ihrem Kopf. Die Kugel! Was hatte sie nur gesehen? Sie
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