Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
drang aufgeregtes Geschrei an Bord. Bis zur Kette war es kaum mehr als einen Bogenschuss. Der Schoner schleppte jetzt den Anker samt der schweren Trosse über den Grund des Flusses und verlor dad u rch rasch an Fahrt. Bombos Stimme klang fast beschwörend.
»Etwas mehr backbord, Engwin. Schön vorsichtig! Mit dem Ruder voraus ist das Schiff schwer zu steuern, aber wenn der Anker hält, können wir’s schaffen.«
Wie gebannt blickten alle auf die rufenden M ä nner am Ost- und Westufer; zwischen ihnen lag im Wasser die Kette.
Der Segler knarrte und knarzte wie ein lebendiges Wesen, das sein Letztes gab, um den Zusammenstoß zu verhindern. Ein beängstigendes Knirschen erhob sich unvermittelt über die Klagelaute des Schoners. Es kam von der zum Zerreißen gespannten Trosse; der Anker musste sich irgendwo am Grund festgehakt haben.
Plötzlich brach mit ohrenbetäubendem Krachen die Gangspill, die Winde, an der das Ankertau befestigt war. Wie ein Geschoss wurde die sich drehende Trommel übers Vordeck katapultiert, durchbrach die Reling und landete platschend im Fluss. Das dicke Tau lockerte sich durch die Befreiung von der Winde für einen kurzen Moment, zog sich jedoch sogleich wieder straff. Diese Belastung war zu viel f ür den Anker und er riss sich los.
Für einen Moment waren alle vor Schreck wie gelähmt. Selbst Bombo konnte nur starr auf die Stelle im Wasser blicken, wo wie ein Riff die Kette lag.
»Wir werden wieder schneller.« Es war Múrias Stimme, die sich aus dem Hintergrund ins Bewusstsein der Männer drängte. Die Heilerin war unbemerkt ans Oberdeck zurückgekehrt.
»Beim Hüter der himmlischen Lichter!«, keuchte Bombo.
»Wir treiben genau mit dem Ruder gegen die Kette. Hart steuerbord, Engwin. Sofort!«
Während das Kommando wiederholt wurde, eilte Ergil zu Múria. »Wir müssen die Seskwin sofor t umlenken.«
Anstatt etwas zu sagen, streckte sie ihm nur die Hand entgegen. Beide schlossen die Augen. Twikus gesellte sich zu ihren Geistern, die sie gleich den Enden dreier Taue miteinander verspleißten. Schon durchdrang Ergils Sinn das Schiff, zerlegte es gleichsam in seine Einzelteile. Er spürte jede Planke, jeden Spieker, jeden Bolzen.
»Gut so!«, flüsterte Múria. »Und jetzt schleunigst weg von hier…«
Abermals ging ein Ruck durch den Rumpf der Meerschaumkönigin, gefolgt von einem Knirschen, dem sich ein Bersten anschloss.
Ergil und Múria verloren das Gleichgewicht und fielen der Länge nach hin. Sie öffneten die Augen. Um sie herum lagen noch andere auf den Planken, die meisten Seem ä nner hatten sich jedoch rechtzeitig festgehalten.
»Was war das? Sind wir in Sicherheit?«, fragte Ergil benommen.
Die Antwort kam von der Reling, wo Bombo tobte:
»Verdammt, das war unser Ruder! Ich habe mein eigenes Schiff manövrierunfähig gemacht. Schick s chnell drei Männer nach achtern ins Hellegatt und lass nachsehen, ob wir ein Leck haben. Falls wir Wasser machen, soll einer zum Lenzen Verstärkung holen.«
Engwin eilte davon.
»Das Versetzen müssen wir noch üben«, sagte Múria mit versteinerter Miene.
Ergil wich ihrem strengen Blick aus. Er war über sein Versagen zutiefst zerknirscht. Auch Twikus hüllte sich in beschämtes Schweigen.
Der Kapitän brüllte derweil weitere Befehle. Als er zum Atemschöpfen eine Pause einlegte, fragte Falgon: »Wie ernst is t es?«
» D ramatisch, würde ich sagen. Unsere Meerschaumkönigin muss vielleicht nicht abdanken, aber so viel steht fest: Der Triumphzug im Hafen von Bolk fällt aus.«
Die Rösser preschten am Fluss entlang in Richtung des Herzogtums. Hauptmann Woogan hatte die Führu n g übernommen. Hinter ihm galoppierten Bombo, Falgon, Múria, Twikus (Ergil hatte ihm den Sattel überlassen, um ungestört mit sich zu hadern) und Dormund. Ihre Pferde waren eine Leihgabe der Leibgarde. Von dem kleinen Eisvogel, der sich seit nunmehr zwei Stunden auf des Prinzen Schulter festkrallte, hatte während des überstürzten Aufbruchs kaum jemand Notiz genommen. Mehr oder weniger standen alle immer noch unter Schock, die Gefährten, weil sie ihre stolze Begleiterin, die Seskwin, hatten zurücklassen müssen, und Hauptmann Woogan, weil er sich die Schuld an dem Unglück zuschrieb.
Der Kampf des ruderlosen Schiffes gegen die Strömung hatte mehr als eine Stunde gedauert. Ohne ihr Steuerorgan war die Meerschaumkönigin zunächst längsseits gegen die Kette gedrückt worden. Dank seiner eingespielten Mannschaft hatte Bombo sie
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