Mirad 02 - Der König im König
habt Euren Gefangenen eben ein ›Ungeheuer‹ genannt.«
Grotebrecht nickte. »Er ist zumindest kein richtiger Mensch. Äußerlich sah er zwar so aus, aber unter seiner Kapuze hatte er nicht einmal ein Gesicht. Nur lauter schimmernde Schuppen waren da. Jedes Mal, wenn man auf sie blickte, sahen sie anders aus. Sofern ihm der Sinn danach stand, konnte er damit sogar Augen, Nase und Mund, wie wir sie haben, formen. Ich habe mich davon natürlich nicht täuschen lassen. Die Farbe mochte ja stimmen, aber aus der Nähe konnte ich immer noch die Schuppen sehen. Außerdem hatte er unter seinem Mantel ein zweites Paar Arme versteckt…«
»Ein Wagg?«, rutschte es Twikus heraus.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, Majestät. Fest steht, dass uns diese Kreatur, obwohl sie sich ganz friedlich festnehmen ließ, alles andere als geheuer war. So einem Wesen bin ich nie zuvor begegnet.«
»Aber ich«, sagte Múria tonlos.
Aller Augen richteten sich auf sie.
Sie erwiderte ruhig die Blicke und fügte dann aufgeräumt hinzu: »Einige dieser Geschöpfe haben einst die Waggarmee begleitet, die in den Grünen Gürtel eindrang und die Sirilim niedermetzelte. Man nennt sie Zoforoth.«
»Bei uns besser bekannt als Chamäleonen«, fügte Falgon hinzu.
Múria nickte. »Weil sie die Farbe und Musterung ihrer Haut wie ihre vierbeinigen Namensgeber verändern und sogar ihr Gesicht nach Belieben umgestalten können.«
Grotebrecht wirkte mit einem Mal alt und hinfällig. »Ich kenne die Legenden von den Chamäleonen«, sagte er mit tiefer Stimme. »Es heißt, sie seien ebenso wie die Sirilim ausgestorben.«
»Offenbar hat mindestens einer überlebt.«
»Ich möchte Euer Urteil nicht infrage stellen, Herrin, aber könnte es nicht auch etwas anderes gewesen sein?«
»Das würde mich sehr wundern. Euer Gefangener nannte sich Kaguan, nicht wahr?«
»So ist es.«
»Das hat mir von Anfang an nicht gefallen. Kaguan ist ein typischer Zoforothname.«
»Herr der himmlischen Lichter, steh uns bei!«, flüsterte Falgon mit nicht enden wollendem Kopfschütteln.
»Scheinbar bin ich der Einzige hier, der noch nie von diesen vierarmigen Ungeheuern gehört hat«, beklagte sich Twikus.
Múria klärte ihn auf. Der Hauptmann habe sich aus gutem Grund der allgemeinen Ansicht angeschlossen, die Chamäleonen seien ebenso wie die Schönen von Mirads Angesicht verschwunden. Einst lebten die Zoforoth mit dem dunklen Gott Magos auf dem Berg Kitora in einer Art Zweckgemeinschaft.
So wie wir drei, merkte Nisrah an, der sich ebenfalls in dieser Sache auszukennen schien.
»Durch seine verwandlungsfähigen Diener konnte sich Magos in den Falten Mirads festhalten«, fuhr die Geschichtsschreiberin fort. »Er sprach durch sie, sah durch sie, handelte durch sie. Als es keine Zoforoth mehr gab, verschwand auch er aus unserer Welt. Diese geheimnisvollen Wesen waren nie sehr zahlreich gewesen, die Schönen sprachen sogar von nur wenigen Dutzend. Bis heute glaubte ich, Jazzar-fajim hätte sie alle getötet und damit auch Magos besiegt.« Múria schluckte, weil die Erinnerung an ihre erste große Liebe ihr die Kehle zuschnürte. »Vielleicht ist die Legende von der Heldentat des tapferen Sirilo nur ein Wunschbild jener Menschen, die sich nach Frieden sehnten.«
Twikus spürte ein Prickeln, als der Name des mutigen Sirilimfürsten fiel, mit dem er – seine Lehrerin hatte ihm das einmal verraten – sogar verwandt war. Die Vorstellung, Jazzar-fajim könnte umsonst gestorben sein, musste Múria unerträgliche Qualen bereiten. Der junge König fühlte in diesem Moment ähnlich wie sein Bruder am vorangegangenen Abend. In dem Bemühen, seine Meisterin zu trösten, sagte er: »Magos hätte unsere Welt nie freiwillig aufgegeben. Jazzar-fajim muss ihn dazu gezwungen haben. Selbst wenn sein Sieg über den dunklen Gott nicht vollständig gewesen sein mag, hat er doch Mirads Zukunft gerettet.«
Sie lächelte ihrem Schüler dankbar zu. Falgon legte seinen Arm um ihre Schultern. Er wirkte immer etwas unbeholfen, wenn der Name jenes anderen fiel, dem sie einst zur Ehe versprochen war. Múrias Hand suchte und fand die seine.
Um die trübselige Stimmung zu vertreiben, gab Twikus dem Gespräch eine andere Richtung.
»Vielleicht ist einer der Chamäleonen irgendwo versteckt worden und hat überlebt, so wie ich im Großen Alten. Er könnte noch ein Kind gewesen sein, als Jazzar-fajim gegen Magos ausrückte, und stärkt nun, da er herangewachsen ist, seinem Herrn den Rücken.
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