Mirad 02 - Der König im König
Kein Wölkchen trübte das makellose Blau über dem Schiff. Im Norden konnte man steil aufragende, feuerrote Klippen sehen und dahinter im Dunst die schneebedeckten Gipfel des Harim-zedojim-Gebirges. Kaum ein Lüftchen verirrte sich in die Segel. Trotzdem jagte die Silberginkgo mit kräftigem Flossenschlag über die nahezu unbewegte See. Diese Begleitumstände sorgten für eine gewisse Ungläubigkeit, als plötzlich der Ausguck einen »Brecher voraus!« ankündigte.
»Bist du betrunken, Dogerich?«, rief der Kapitän zum Krähennest hinauf, lief aber trotzdem zum Bug, um der Sache auf den Grund zu gehen. Ergil und Popi hefteten sich an seine Fersen. Schekira – im bunten Federkleid eines Eisvogels – schoss senkrecht in die Höhe.
Nur ein paar Herzschläge später wurde das Unglaubliche zur schrecklichen Gewissheit. Eine Welle so hoch wie der Knochenturm der Sooderburg raste von Westen her auf das Schiff zu.
»Herr der himmlischen Lichter!«, keuchte Smidgard.
Popi fing an zu zittern. »Das ist unmöglich. Wir haben keinen Sturm.«
Und Ergil sagte leise: »Kaguan muss uns entdeckt haben. Jetzt beschwört er das feuchte Element gegen uns herauf.«
Der Kapitän drehte sich um und rief Kommandos. Es gab nicht viel zu tun, weil das Schiff ohnehin richtig lag. Um ein Kentern zu vermeiden, musste die Welle mit dem Bug voraus angegangen werden. Sollte sie allerdings über der Silberginkgo zusammenbrechen, würde sie das stehende Gut von Deck fegen. Das Einholen der Segel erübrigte sich damit und ohnehin blieb keine Zeit mehr dafür. Es gab nur noch eins zu tun.
»Alle Mann festhalten!«, brüllte Smidgard. Sein Ruf wurde vielfach wiederholt.
Mit seinem Schildknappen stand Ergil gebannt an der Reling und starrte über den Bugspriet hinweg zu dem heranrollenden Wasserwall. Seine Linke spielte, als sei sie von einem Eigenleben beseelt, mit der Phiole, die seit neun Tagen an der Satimhalskette seiner Mutter hing. Unvermittelt meldete sich die Stimme seines Bruders.
He, Schlafmütze, was ist los mit dir? Tu endlich was!
Die aufrüttelnde Wortmeldung erreichte Ergils Bewusstsein etwas zu spät. Obwohl er durch sie wieder zu sich kam, war die Welle schon zu nah. Mit aufgerissenen Augen sah er dem Unabwendbaren entgegen. Die turmhohe Krone der Woge hatte sich schon weit nach vorne bewegt. Sie würde genau über der Silberginkgo herabstürzen und sie wie eine Riesenfaust zerschmettern.
Mit einem Mal ging ein Ruck durch den Viermaster. Hätte sich Ergil nicht sowieso an der Reling festgeklammert, wäre er wohl von den Füßen gerissen worden. Er konnte nicht fassen, was da geschah: Das Schiff wurde sogar noch schneller, als könne es seine Vernichtung gar nicht erwarten.
Der Segler muss lebensmüde sein, schoss es ihm durch den Kopf.
Bei dieser Schlussfolgerung handelte es sich um einen Irrtum. Die Silberginkgo hing sogar sehr an ihrer Existenz. Deshalb verkürzte sie den Abstand zur Monsterwelle und schwamm mitten in das sich auftürmende Wasser hinein. Ihr Bug wurde in die Höhe gehoben. Der Anstieg wurde immer steiler. Keiner an Bord ahnte, was dieses tollkühne Manöver bezwecken sollte. Vor, über und auch hinter dem Schiff war nur noch tosendes Wasser zu sehen. Die Silberginkgo schien sich geradewegs in eine Falle gestürzt zu haben.
Doch mit einem Mal schwenkte sie über backbord herum und zwar schneller, als es je ein Viermaster dieser Größe getan hatte. Sie vollzog keine ganze Wende, sondern legte sich schräg in die abschüssige Wellenflanke und rauschte jetzt mit der Woge gen Osten.
»Ich fass es nicht!«, rief Smidgard verzückt. »Das Schiff reitet auf der Welle.«
Diesmal fehlten Ergil die Worte.
Neben ihm klammerte sich Popi an die Reling und war ansonsten vollauf mit der Bändigung seiner zitternden Gliedmaßen beschäftigt.
Die Woge toste um den Segler herum, aber sie bekam ihn nicht zu packen. Wie ein weißer Seehund, der elegant durch den Reifen des Dompteurs sprang, schoss die Silberginkgo durch den fast geschlossenen Wasserkreis hindurch. Erst als sie nach etlichen Meilen das Ende des schäumenden Kanals erreichte, konnte sie sich endlich daraus befreien.
Ergil und seine Gefährten hatten noch nicht ganz durchgeatmet, als Schekira aus der Höhe zu ihm herabstieß, vor seinem Gesicht in der Luft stehen blieb und rief: »Es ist noch nicht vorbei, mein Retter. Von der Küste kommt ein großes Loch auf euch zu.«
Smidgard musterte argwöhnisch den Eisvogel. (Er wusste zwar, dass die
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