Mirad 03 - Das Wasser von Silmao
Gegenrede anheben, aber eine Geste seines Oheims ließ ihn mit offenem Mund innehalten. Der Sirilo deutete auf eine Stelle nahe dem Ufer, wo etwas hinter den Bäumen hervorragte.
»Was ist das?«, fragte Ergil.
»Mighdal-qodheschim«, antwortete Jazzar-siril. Seine Augen glänzten mehr als gewöhnlich und seine Stimme klang verklärt. »Der Turm der Heiligen. Das höchste und ehrwürdigste Bauwerk von Saphira.«
Saphira ist Sirilo und bedeutet in Hochmiradisch »die Glänzende« oder »die Schöne«. Als die Mondwolke über das Gebiet der Stadt hinwegschwebte, war davon aber nicht viel zu bemerken. Unter dem Luftschiff erstreckte sich ein riesiges ödes Tal. Oder besser gesagt ein monströses kahles Loch, eine tiefe Narbe, in der – wie im ganzen Grünen Gürtel – nicht einmal Unkraut wuchs. Die gewaltige Kluft sah aus, als habe ein Riese die Stadt samt Erdreich vor langer Zeit mit einem Spaten aus dem Waldboden gehoben und fortgetragen.
Zum Sternenspiegel hin stieg die Senke steil an und bildete einen schmalen Uferdamm, der die Wasser des Sees am Durchbruch hinderte. Auf dieser Landenge standen einige prächtige Häuser, deren weiche Formen und kunstvoll geschwungene Ornamente Ergil inzwischen vertraut waren. Ähnliches hatte er bei seinem Ausflug in die Zwischenwelt auch auf der Sooderburgklippe gesehen. Laut Jazzar-fajim waren die Villen früher von einigen der bedeutendsten Persönlichkeiten der Schönen bewohnt worden.
Zwischen ihnen ragte der Turm der Heiligen auf.
Es war ein elegantes Bauwerk, einem riesigen Dorn gleich, voller erhabener Ornamente, die zusammen ein kompliziertes, ineinander verschlungenes Muster ergaben. Wie bei einer auf dem Schalltrichter stehenden Fanfare hatte der Turm in Bodennähe zunächst einen beträchtlichen Umfang, welcher rasch abnahm, um sich auf den nächsten etwa fünfhundert Fuß dann nur noch allmählich zu verjüngen. Weil sich die glatte helle Außenmauer aus der Entfernung gesehen von den toten grauen Bäumen im Hintergrund kaum abhob, hatte Ergil das schlanke Wunderwerk sirilimischer Baukunst erst so spät bemerkt.
Jazzar-fajim erklärte, der Turm habe den Auserwählten sowohl als Versammlungs- wie auch als Ausbildungs- und Forschungsstätte gedient. Von seiner Spitze aus konnten die Gelehrten die Gestirne studieren. Im Fundament waren die Hörsäle, Beratungsräume und eine Bibliothek untergebracht…
Der Sirilo hielt mitten im Satz inne und fragte: »Warum bist du so aufgeregt, Ergil?«
»Weil der Turm mir beweist, dass ich Recht hatte. Es gibt nur einen vernünftigen Grund, warum ausgerechnet dieses Bauwerk erhalten geblieben ist: Die Sirilim wollten ein weithin sichtbares Zeichen hinterlassen. So als riefen sie uns zu: ›Seht her! Wir sind noch da. Hier müsst ihr nach uns suchen.‹«
»Es könnte noch eine andere Erklärung für all das geben«, mischte sich Harkon in das Gespräch der beiden Durchdringer ein. Als sie sich ihm zuwandten, blickten sie in ein ernstes Gesicht.
»Nämlich?«, fragte Ergil. Während des zweiunddreißigtägigen Fluges war Harkon allen ein Freund geworden, ein neues Mitglied der Gemeinschaft des Lichts.
»Magos könnte die Stadt mit Stumpf und Stiel ausgerissen haben. Und den Turm der Heiligen hat er stehen lassen, um allen, die sich an diesen Ort wagen, zuzurufen: ›Seht her! Hier haben die Schönen gewohnt. Aber nun ist keiner mehr da. Ihr braucht gar nicht erst nach ihnen zu suchen.‹«
»Du kannst einem wirklich die Laune vermiesen«, murrte Ergil.
Die Mondwolke landete an der Ostflanke des Loches, wo keine verdorrten Bäume standen. Über den kahlen Wipfeln des gemeuchelten Waldes ging gerade die Sonne unter. Ergil konnte es kaum erwarten, die Suche in der Zwischenwelt zu beginnen. Er war immer noch überzeugt, mit seinen Vorstellungen richtig zu liegen. Der Turm würde ihm ein wichtiger Anhaltspunkt sein, um in die Vergangenheit Saphiras vorzustoßen und von dort Zugang in jene Falten der Welt zu finden, wo die Hauptstadt der Sirilim, wie er hoffte, verborgen lag. Das war übrigens ein weiterer Grund, der für seine Theorie sprach.
Nachdem er den Sämlingen des Mondtaus eingeschärft hatte, sich auf keinen Fall zu verflüchtigen, begab sich die Gruppe zu dem Turm. Aus der Nähe war das Bauwerk noch beeindruckender. Wenn man an seinem Sockel stand und an dem schlanken Dorn nach oben blickte, schien es bis in den Himmel zu reichen. Zugang erlangte man durch ein Portal, dessen quer stehende Ellipsenform Ergil
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