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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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jeder erlebt es, bis zu einem gewissen Grad.«
    »Was tun Sie dagegen?«
    »Valium soll helfen. Auch bestimmte Antihistaminika. Ich persönlich ziehe ein natürlicheres Mittel vor.«
    »Und das wäre?«
    »Hingabe an Gott, fünfmal am Tag«, sagte der Oberst. »Vielleicht nicht ganz so wirksam wie Diazepam, aber dafür mit einigen positiven Nebenwirkungen.«
    Mustafa sah noch einmal verstohlen hinüber zum Kapitol, und als er diesmal beinahe das Gleichgewicht verlor, wusste er, dass es nicht die Zeitumstellung war. Er riss seine Aufmerksamkeit gewaltsam von dem Gebäude los. »Es ist hier wirklich anders, nicht? So viele Bäume, Gaddafi wäre neidisch. Selbst die Sommerhitze fühlt sich anders an.«
    »Ich werde Ihnen etwas Komisches erzählen, es ist nicht das Klima oder das Land, das ich als befremdlich empfinde, es ist der Krieg.« Der Oberst schüttelte den Kopf. »Mittlerweile müsste ich mich wirklich daran gewöhnt haben. Es ist meine fünfte Stationierungszeit. Ich bin schon so lange hier, dass es mir, wenn ich an Arabien denke, nicht nur wie ein anderes Leben vorkommt, sondern so, als wäre ich niemals dort gewesen.«
    »Vielleicht sollten Sie Urlaub nehmen«, schlug Mustafa vor. »Wieder in die Heimat fahren, sich wieder an das Land gewöhnen.«
    »Nein, die Zeit diene ich jetzt noch ab …« Ein Zittern ging durch ihn, das er gar nicht zu bemerken schien. »Wissen Sie, manchmal habe ich so Träume, sehr lebhafte, die werden Sie wahrscheinlich auch bekommen, wenn Sie lang genug hierbleiben.«
    »Was für Träume?«
    »Träume, dass ich amerikanischer Staatsbürger bin … Dieser Traum kommt immer wieder. Ich träume, dass ich Zivilist bin und nur so tue, als wäre ich Soldat. Ich bin draußen, auf einem riesigen Feld, an einem Ort namens Manassas. Ich bin mit anderen Amerikanern dort, größtenteils Freiberufler – Ärzte, Anwälte, Waffenlieferanten … Wir ziehen diese Theater-Uniformen an, manche blau, manche grau, und inszenieren Schein-Schlachten, ›kämpfen‹ für die Freiheit. Am Ende gehen wir dann in eine Kneipe und trinken Bier – ich alkoholfreies. Und dann setze ich mich in mein Auto und fahre zurück nach Alexandria …«
    »Eine lange Fahrt«, sagte Mustafa.
    Der Oberst lachte. »Alexandria in Virginia, nicht in Ägypten. Es liegt gleich auf der anderen Seite des Flusses, unmittelbar südlich von hier. In dem Traum habe ich dort ein Haus, ein großes gelbes Haus am Wasser. Ich wohne dort mit meiner Frau und meinen vier Kindern. Es ist schön … Und dann wache ich auf und bin hier im Haus des Krieges, kein Staatsbürger, sondern ein Invasor. Und mir dreht sich der Kopf … Aber Beten hilft.«
    Sie hatten das Museum erreicht. Ein ertrunkener Tyrannosaurus nahm sie wieder in Empfang.
    Der Oberst fragte: »Sind Sie in Mekka gewesen, Mustafa?«
    »Sie meinen, auf dem Hajj?«, sagte Mustafa. »Ja, meine Frau Fadwa bestand darauf … Und Sie?«
    »Ich habe es vor«, sagte der Oberst. »Wenn ich das hier hinter mir habe … Ich habe mit anderen Soldaten gesprochen, die schon dort waren, und sie wirkten alle sehr geerdet, wie ich es auch gern wäre.«
    »Geerdet?«
    »In Frieden«, sagte der Oberst. »Mekka ist Frieden.«
    »Und Alexandria?«, fragte Mustafa. »Sind Sie je auf die andere Seite des Flusses gefahren, um nach Ihrem Traumhaus zu suchen?«
    »Nein. Das wäre nicht klug.«
    »Wirklich? Ich wäre versucht.«
    »Ich bin versucht«, sagte der Oberst. »Aber es liegt in der Roten Zone. Kein guter Ort, um Träumen nachzujagen. Daran sollten Sie morgen bei Ihrem Einsatz denken.«
    »Sie kommen also nicht mit?«
    »Nein, ich habe hier zu tun. Aber ich werde Gott bitten, auf Sie achtzugeben.« Dann lächelte er, denn gerade als er diese Worte sprach, traten sie in einen Saal, der mit einem weiteren Fresko geschmückt war: Diesmal sah man den Propheten Daniel in der Löwengrube.
    »Danke«, sagte Mustafa und ließ den Blick von Daniels gelassener Miene zu den frustriert-verzerrten Fratzen der Bestien schweifen. »Dafür wäre ich Ihnen dankbar.«

T. A. B.
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    T. A. B. ist eine Abkürzung der englischsprachigen Redensart »That’s America, baby« (»Das ist Amerika, Schätzchen«). Während der Regierungszeit Lyndon Johnsons war es in Amerika gang und gäbe, schlechte Nachrichten (insbesondere schlechte Nachrichten, für die die Regierung irgendwie verantwortlich gemacht werden konnte) mit der Feststellung »T. A. B.« zu kommentieren – eine Verwendung des Ausdrucks, deren Implikationen gut

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