Mirage: Roman (German Edition)
schmunzelte. »Aber was beunruhigt dich daran? Befürchtest du, er könnte etwas Unziemliches mit dir machen wollen?«
»Was? Nein! … Es ist eine Sünde, das ist alles.«
Abu Mustafa zuckte die Achseln. »Unzucht mit Frauen istebenfalls eine Sünde, wenn sich seit meiner letzten Koranlektüre nichts geändert hat«, sagte er. »Aber du hast keinen solchen Ausdruck im Gesicht gehabt, als du glaubtest, Samir hätte sich dessen schuldig gemacht. Geht es hier wirklich um Gottes Gesetze, oder bist du nur einfach prüde?«
Mustafa traute seinen Ohren nicht. »Du bist darüber nicht schockiert?«
»Als junger Mann wäre ich das vielleicht gewesen. Aber nach vierzig Jahren an der Universität gehört schon mehr als ein bisschen Sodomie dazu, mich zu schockieren.«
»Schön, aber das ist noch nicht alles. Ich glaube, Samir wird erpresst.«
»So schockierend ist das auch nicht. Aber es ist ernst.«
»Und jetzt versuche ich mir darüber klar zu werden, was ich tun soll.«
»Das ist ja doch wohl nicht schwierig«, sagte Abu Mustafa. »Samir ist doch immer noch dein Freund, oder?«
»Ich weiß es nicht, Vater. Möglicherweise hat er mich in Amerika verraten.«
»Bist du immer noch sein Freund?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Weil er dich verraten hat, oder weil er eine andere Sorte Sünder ist, als du angenommen hattest?«
»Beides«, sagte Mustafa. »Sag mir, was ich tun soll.«
»Ich möchte dir erst eine andere Frage stellen. Von allen Sünden, die ein Mensch begehen kann, welche, meinst du, ist die schlimmste?«
»Mord«, sagte Mustafa.
»Ich würde ebenfalls Mord sagen. Und wenn Samir ein verurteilter Mörder wäre, würdest du ihn im Gefängnis besuchen?«
Mustafa dachte darüber nach. »Ja. Ich glaube schon.«
»Na dann«, sagte Abu Mustafa. »Für jemanden wie Samir dürfte jeder Tag wie ein Leben im Gefängnis sein – umso mehr, wenn seine heimliche Schande ans Licht gekommenist und von seinen Feinden als Druckmittel gegen ihn verwendet wird. Fragst du also, was du tun sollst, würde ich sagen: Geh zu ihm. Sei sein Freund. Und wenn seine Sünde dir Angst macht, erinnere dich, dass auch dein Lebenswandel alles andere als vollkommen gewesen ist.«
»Also gut«, sagte Mustafa nickend. Er streckte die Hand aus und berührte die seines Vaters. »Kann ich dich hier eine Weile allein lassen?«
»Ja«, sagte Abu Mustafa. »Eine kleine Weile.«
Joe Simeons Wecker klingelte um neun. Ein Sonnenstrahl drang durch einen Ritz in der Jalousie ins Zimmer, und Simeon fragte sich, ob dies das himmlische Licht Gottes war, das sich durch das Firmament bohrte. Während der Wecker weiterklingelte, dachte er: Heute werde ich in Gottes Haus sein.
Er hatte die Kommunion seit seiner Abreise aus Heidelberg nicht mehr empfangen. Er wusste, dass es in Bagdad christliche Kirchen gab, aber er wusste nicht, was für welche es waren und welche Sakramente sie spendeten, und außerdem war ihm verboten, das Hotel zu verlassen, bevor es Zeit für seine Mission war. Also behalf er sich mit dem, was er im Zimmer hatte. Er nahm einen Brocken von seinem Abendessen übriggebliebenes Brot und fand in der Minibar eine Flasche mit einem roten Fruchtsaftgetränk. Er rezitierte die Worte des Letzten Abendmahls, so gut er sie zusammenbekam. Christi Leib war altbacken, Sein Blut eher Granatapfel- als Traubensaft und kein bisschen vergoren, aber dennoch fühlte sich Joe Simeon erfrischt, von seinen Sünden reingewaschen.
Um ganz sicherzugehen, ließ er sich ein Bad einlaufen und streute eine Handvoll blumig duftende Salze hinein. Er lag in der Wanne, stellte sich Jesus im Jordan vor, hielt sich Nase und Mund zu und tauchte vollständig unter.
Er stieg aus dem Wasser, trocknete sich ab und öffnetedie Hemdschachtel. Die Sprengstoffweste war schwer, dem Schnitt nach einer Splitterschutzweste sehr ähnlich und mit Plastiksprengstoff gepolstert. In die Quader aus kittartigem Material hatte man Nägel gedrückt, die eine Splitterwirkung erzeugen sollten. Die Nägel gaben dem Ganzen einen primitiven Anstrich, aber der Zünder und die Verkabelung waren erstklassig, und man hatte viel Mühe darauf verwandt, die Materialstärke der Weste zu minimieren.
Er schlüpfte hinein. Die Schachtel enthielt außerdem ein langärmliges Baumwollhemd, das er über der Sprengstoffweste zuknöpfte, sowie eine weitere Weste aus dunklem Stoff, die er darüber anzog. Er betrachtete sich im Spiegel, stellte sich im Profil auf, beäugte sich prüfend: Sehe ich darin
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