Miras Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
anzusehen. Wie gut, dass ich meinem Max in der Werkstatt schon die Winterreifen hatte aufziehen lassen. Gegen Abend machte Mira das Radio an, sie wusste, dass ein Chorgesang auf dem Spielplan stand: „Melodienzauber im Advent“. Als die Übertragung endete, kam der Wetterbericht mit einer Unwetterwarnung. Ein Schneesturm war auf dem Weg! Valerius stand auf, ging zum Fenster und sagte: „Seht euch das mal an!“ Was wir sahen, verschlug uns die Sprache. Während wir gemütlich am Ofen gesessen hatten, war etwa ein Meter Schnee gefallen. Die Straßen waren nicht geräumt. „Wisst Ihr was, Kinder?“ meinte Mira. „Es sieht so aus, als würde ich besser mal das Gästezimmer einheizen. Ihr könnt doch so unmöglich nach Hause fahren! Zumal jetzt auch noch ein Sturm aufzieht.“
Es war nicht nur die Stimme der Vernunft, die uns dazu bewegte, tatsächlich über Nacht zu bleiben, es war auch die wundervolle adventliche Stimmung in diesem Haus, die wir nicht verlassen wollten. Also ließen wir uns nach einem kleinen Höflichkeitsgefecht („Aber wir wollen Ihnen doch keine Umstände bereiten…“) bereitwillig wieder mit Plumpudding und nunmehr auch einer Flasche Rotwein bewirten. Schließlich musste heute niemand mehr Auto fahren.
Während der Sturm dann bald um das Haus tobte, erzählten wir uns gegenseitig Geschichten.
Valerius und ich hatten uns zusammen aufs Sofa gekuschelt und in meinem Schoß lag Rosalinde, ein Kätzchen, das Mira zugelaufen war. Es war so faszinierend wie früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, das einer Märchenerzählerin lauschte.
Mira erzählte von den Elfen in ihrem Garten, Valerius von dem schielenden Nasenbär aus seiner Zeit als Tierpfleger und ich von meinen Erlebnissen als Journalistin.
Mira bat Valerius, einige Scheite Holz im Kamin nachzulegen. Als er vom Sofa aufstand, fehlten mir seine Nähe und Wärme.
„Valerius, danke fürs Einheizen, wir werden die Wärme im Wohnzimmer brauchen, denn unsere Geschichten sind interessant und lang. Ich weiß auch noch eine von einem Poltergeist, der auf meinem Dachboden wohnte.“
Mein Schatz nahm sich noch einen Teller mit Plumpudding und bestrich diesen großzügig mit Brandybutter. „Ich brauche eine Stärkung“ meinte er augenzwinkernd und lächelnd. „Mit Poltergeistern ist nicht zu spaßen.“ Er nahm mich wieder in den Arm und aß in aller Seelenruhe, während Mira weitererzählte.
Mira wurde alsbald sehr müde, schloss ermattet die Augen und schlief in ihrem Sessel sofort ein, wie nur kleine Kinder und alte Menschen das können. Valerius und ich deckten sie zärtlich mit zwei Wolldecken zu, schoben ihr fürsorglich einen gepolsterten Schemel unter die Füße und zogen uns still zurück ins Gästezimmer, nachdem wir den Funkenschutz vor den Kamin gestellt hatten. Das Kätzchen rollte sich auf Miras Schoß zusammen und schloss die Äuglein. Die Kerze war längst niedergebrannt.
Draußen schneite es unaufhörlich.
Es war ganz still im Lindenhaus. Nur das Kätzchen Rosalinde hörte man leise schnurren.
Wendezeit
Kurz nach Neujahr kaufte ich ein großes Marzipanschwein für Mira. Es sah so lustig aus mit seiner großen roten Schleife um den dicken, rosigen Bauch. Im Maul hatte es das obligatorische grüne Kleeblatt stecken und es trug einen glänzenden, schwarzen Zylinder. Ich hatte es in eine Klarsichtfolie verpackt, die ich mit goldenen und silbernen Stickern in Hufeisenform verziert hatte. Als ich im Dorf ankam, wo Mira wohnte, stand auf meinem gewohnten Platz schon ein anderes Auto, ein anthrazitfarbener edler Mercedes. Ich parkte Max eine Straße weiter und ging durch den glitzernden Schnee, der unter meinen Winterstiefeln knirschte, zum Lindenhaus zurück. Gerade als ich klingeln wollte, öffnete sich die Haustür und ein Mann mittleren Alters in Winterjacke blickte mich an. „Hallo“, sagte er freundlich, „wollen Sie zu Frau Mertens?“
„Ja“, nickte ich. „Ich wollte ihr einen kurzen Neujahrsbesuch abstatten. Ist sie denn nicht zuhause?“
„Nein, sie ist im Krankenhaus.“
„Oh nein!“ Ich war wirklich erschrocken. „Was fehlt ihr denn?“
Der Mann schaute mich prüfend an und fragte: „Sind Sie zufällig Melissa Fink?“
Ich nickte. „Und Sie sind?“
„Markus Mertens, der Sohn von Mira. Sie hat Sie mir beschrieben und aufgetragen, Sie mitzubringen. Meine Mutter war fest davon überzeugt, dass ich Sie finden würde, obwohl ich ihre Adresse gar nicht habe. Wie es aussieht,
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