Miss Emergency
Blut abnehmen wie in einer GroÃmolkerei? Warum ist denn für die Morgenrunde mehr Zeit eingeplant als zum Desinfizieren/Kanüle rein/Kanüle raus nötig ist? Weil da Menschen liegen, die allein sind, vielleicht traurig, vielleicht Angst haben. Mann, Lena, wie schäbig! Ich trete zu meinem Wagen und schiebe ihn langsam über den Flur davon. Ich weiÃ, eine Entgegnung wäre angebracht gewesen. Eine Entschuldigung an Dr. Thalheim, wenigstens ein Wort zu Jenny. Mir fällt einfach nichts ein. Im Film würde es jetzt regnen. Hier auf dem Krankenhausflur.
Heute Vormittag nehme ich mir für jeden Patienten Zeit. Ich erfahre Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Dass die schmächtige Frau in der 9 sechs Kinder und die Polizistin in der 14 einen Hang zu anzüglichen Witzen hat und dass der zahnlose Rentner in der 11 jeden Morgen um acht aus dem Fenster schaut â dann geht unten seine Frau mit seinem Hund vorbei. Doch meiner aufmerksamen Anteilnahme zum Trotz hallt in meinem Kopf immer Dr. Thalheims Stimme wider, kalt vor Enttäuschung. Ich könnte mich nicht nur der Patienten wegen in Grund und Boden schämen. Ich habe auch keine Ahnung, wie ich dem Oberarzt wieder unter die Augen treten soll. Erschöpft schleiche ich aus dem Zimmer der Polizistin mit der Pankreasinsuffizienz; hinter mir dröhnt das schallende Gelächter, mit dem sie ihre eigenen Witze honoriert. Ich muss kurz ausruhen. Und dann gehe ich vielleicht erst mal zu Manuel hinein, nur um ein bisschen Kraft zu tanken?
Am Ende des Ganges erscheint eine weiÃe Gestalt, schwebt langsam auf mich zu wie ein Geist. Isa. Sie bleibt stehen und lächelt schief. Mann, Jenny hätte schon aus einem Kilometer Entfernung das Ergebnis heraustrompetet, bei gutem Ausgang mit Gesang und Luftsprüngen, im schlechten Fall wütend wie ein brüllender Löwe. Isa seufzt nur: »Ich bekomme einen Patienten.«
Hurra, na also, ich wusste doch, dass alles gut wird; warum jubelt sie denn nicht?! Ach so, da kommt noch was. »Aber nicht sowie ihr«, fährt Isa fort. »Sondern als Test. Dr. Ross und Dr. Thalheim haben beschlossen, dass ich den Patienten begleitet betreue. Dann muss ich ihn in der Fallbesprechung vorstellen, damit ich sprechen lerne. Wenn ich das hinkriege, vor allen Leuten, ist alles okay. Wenn nicht â¦Â«
Schnell umarme ich meine mutlose Freundin. Klar kriegt sie das hin.
»Alle sind in der Fallbesprechung â¦Â«, flüstert sie.
Ich schüttle den Kopf. »Der Chefarzt kommt bestimmt nicht zu so einer PJler-Kindergartenveranstaltung!«
Ehrlich gesagt weià ich nicht, ob der Chef nicht EXTRA vorbeischauen würde, um zu sehen, ob die PJlerin seines Misstrauens ihre Sprache wiedergefunden hat. Aber das sage ich natürlich nicht. Stattdessen gebe ich mich überzeugt, verspreche, mir den Vortrag vorher zu Hause 157-mal anzuhören â und endlich wagt Isa wieder Luft zu holen.
»Du bist die Beste!«, sagt sie. »Ich bin so glücklich, dass wir Freundinnen sind.«
Es klingt, als hätte sie so was noch nie zu irgendwem gesagt. Seit Hanni und Nanni hat niemand seine Freundschaftsbekundungen mehr so gestelzt dargebracht. Aber Isa ist nun mal nicht der Küsschen-Typ. Unsere Küsschen-Freundin kommt übrigens genau in diesem Moment im wilden Galopp um die Ecke gestürmt. Sie lässt sich das Ergebnis zusammenfassen, Isa aber nicht ausreden, und knutscht sie ab.
»Na seht ihr!«, lacht sie. »Und jetzt hopp hopp mit unseren Wägelchen, sonst sind wir hier die schlechtesten Ãrzte!«
Ach ja. Kurz hatte ich verdrängt, dass es da noch was gab, weswegen ich mich mies fühlen musste. Jenny grinst, als ich das sage.
»Andere werden nie beim Lauschen erwischt!«, tönt sie. »Aber wir müssen nur eine Sekunde zu lange stehen bleiben, schon sitzt uns der Oberarzt im Nacken!« Ich nicke, auch wenn das eigentlich nicht alles ist, weshalb ich mich schlecht fühle.
»Ihr habt gelauscht?«, fragt Isa entsetzt.
»Wir kamen ja gar nicht dazu!«, empört sich Jenny. »Kaumstanden wir vor der Tür, kam Thalheim auch schon angeflogen wie der Rachegott.«
»Und?!« Isa wird bleich, als habe SIE Dr. Ross so schamlos bespitzelt.
»Nichts«, winkt Jenny ab. »Er hat nur gesagt, wir sollen mit unseren Wagen weiterschieben, sonst kündigt er uns.« So wie sie es erzählt, klingt es lustig â nach
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