Miss Emergency
natürlich hat er DAS nicht bestellt. Er hat nur gesagt, ich soll dir ein Brot bringen, weil du keine Pause hast.«
Ich bin so gerührt und dankbar, dass ich ihm einen krümeligen Kuss auf die Wange drücke.
»Soll ich ihm den weitergeben?«, ruft Ruben mir nach. Ich drehe mich um. »Untersteh dich!« Er grinst und verschwindet.
Das Sandwich schmeckt himmlisch, seit es nicht mehr nur meinen Hunger, sondern auch meine Sehnsucht nach einer Vergebungsgeste des Oberarztes stillt. Wenn er mir etwas zu essen schickt, dürfte er meinen buÃfertigen Sondereinsatz ja wohl anerkennen. Also ist mein eigensüchtiger Patzer von heute Morgen verziehen. Ich kaue langsam und das Friedensbrot reicht den ganzen Weg bis in den Laborkeller.
Natürlich sind die Laboranten sauer, dass jetzt noch zwei Proben hinterhergetrödelt kommen, aber ihre Nörgelei kratzt mich nicht. Jenny ist noch nicht da, um die Ergebnisse der Proben vom Morgen abzuholen. Ich setze mich vor dem Labor auf dieTreppe, hole das erste Mal an diesem Tag Luft und warte. Sie muss ja gleich kommen, dann können wir zusammen zurückgehen und ich hätte Gelegenheit, das Care-Brot des Oberarztes schnellstmöglich auszuwerten. Soll ich mich bedanken oder ist es stilvoller, es stillschweigend hinzunehmen? Bring ich ihn in Verlegenheit, wenn ich mich bedanke? Am Ende des Ganges führt ebenfalls eine Treppe nach oben, dort liegt der Chirurgie-Trakt. Im nächsten Tertial werde ich dort arbeiten. Wie wird das sein? Wer ist dann wohl mein Oberarzt?
Als ich wieder auf die Uhr schaue, ist es fast zwei. Warum ist Jenny noch nicht da?! Gleich ist Visite! Verdammt. Sie hat es doch nicht geschafft. War ja fast klar, dass der wie-auch-immer-geartete Trick schwerlich zweimal hintereinander funktioniert. Klara wird ausrasten, wenn Jenny die Ergebnisse nicht abgeholt hat, obwohl sie vorher so selbstgefällig in der Cafeteria herumtrödelte. Das gibt eine zur Faust geballte Gewitterwolke, unter der sich nicht mal die wendige Jenny wegducken kann. Also was tut eine gute Freundin? Ich öffne noch mal die Tür zu den gnatzigen Laboranten. Sollen sie mich doch anfauchen, ich muss die Auswertungen mitnehmen. Ich setze mein gewinnendstes Lächeln auf und erkläre dem ältesten Laborler, dass heute ausnahmsweise ICH die Morgenergebnisse abhole. Er schaut nur ganz kurz vom Computer auf.
»Morgenproben? Das wird halb eins geholt.«
Ja, das weià ich, Papi. Aber von meiner Freundin Jenny, für die halb eins ein Richtwert und ein Sieg im Grabenkampf mit einer gemeinen Oberschwester einen Hauch wichtiger ist als Pünktlichkeit. Geduldig erkläre ich dem Mann, dass heute leider etwas durcheinandergeraten ist und die Ergebnisse deshalb erstens VON MIR und zweitens JETZT ERST geholt werden.
»NEE, Mädchen!« Er sieht mich an wie ein begriffsstutziges Entchen. »Die sind schon weg.«
Na prima. Wann und wo immer wir uns verpasst haben, fest steht: Jetzt ist es nicht mehr Jenny, die ein Blitztempo vorlegen muss. Jenny ist pünktlich bei der Visite. Ich nicht.
Ich schaffe es gerade noch, mit Japsen und Keuchen. Zeit, Jenny zur Rede zu stellen, ist nicht mehr. Dr. Rossâ Blick wandert über meinen rotverschwitzten Kopf, sie sagt aber nichts. Sie ist freundlich und etwas desinteressiert wie immer. Es wirkt, als wisse sie gar nichts von unserem morgendlichen Lauschangriff auf ihr Büro. Wäre ja anständig von Thalheim, das nicht zu petzen, immerhin hat Dr. Ross keinen Schaden genommen und wir haben unsere Standpauke schon bekommen. Dr. Ross konzentriert sich, wenn überhaupt, heute sowieso nur auf Isa. Sie fragt sie immer wieder nach ihrer Meinung. Isa strengt sich an; sie spricht sicher, hörbar und deutlich â und macht, soweit ich das beurteilen kann, einen guten Eindruck. Nun ja. Auf Dr. Ross. Vor der sich sowieso niemand je ängstigen würde. Selbst wenn sie mit einer geladenen MP zur Visite käme. Denn sie wäre viel zu phlegmatisch, um zu entsichern. Oder die entsicherte Waffe anzuheben. (»Liebe PJler, hier eine MP zur Beängstigung. Ich erwarte Ihre Kooperation. Bitte fürchten Sie sich jetzt zügig, das Gerät ist schwer und kompliziert und um sechs muss ich weg.«)
Schluss, Lena! Erstens: Nur weil Dr. Ross es lockerer angeht, ist sie doch eine gestandene Ãrztin. Zweitens: Selbst wenn es nicht so wäre, ist sie deine Vorgesetzte und du hast nicht das Recht, dich
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