Miss Emergency
ich kann es gerade überhaupt nicht schätzen.
»Wer holt die Berichte aus dem Labor?«, fragt Dr. Thalheim Schwester Klara.
Die lächelt geziert. »Tanja. Sie ist sehr zuverlässig.«
Die Information kommt erst zehn Sekunden später an. Doch dann begegne ich Isas Blick und sehe, dass sie dasselbe denkt. Wenn Tanja ins Labor gegangen ist â wo ist dann Jenny? Isa sieht mich traurig an. »Es ist besser, du suchst sie allein, stimmtâs?« Ja. Natürlich.
Ich muss nicht lange suchen. Meine Erfahrung führt mich zielsicher zu unserem Rückzugswaschraum. Dort sitzt Jenny im offenen Fenster und raucht. Ich trete neben sie und weià nichtszu sagen. In der Ferne sieht man die Hochhäuser am Potsdamer Platz.
»Alles ScheiÃe«, sagt Jenny. Darauf kann man nichts erwidern. Also bleiben wir eine Weile still und Jenny pustet den Rauch über die Stadt.
»Was wird denn jetzt aus dir?«, frage ich endlich.
Jenny zuckt die Achseln. »Ich warte, ob mir vom Rauchen so schwindlig wird, dass ich hier rausfalle.«
Instinktiv halte ich ihren Arm fest. Jenny verzieht ihr Gesicht zu einem halben, zynischen Lächeln. »Keine Angst, den Gefallen tue ich ihnen nicht.« Jenny schnippst die Zigarette nach drauÃen. »Ich bin vorerst âºfreigestelltâ¹. Nicht suspendiert, nur kaltgestellt. Ich hab Anwesenheitspflicht, aber nichts zu tun. Morgen entscheidet der hohe Rat über mein Schicksal.« Der spöttische Tonfall gelingt ihr nicht ganz. Sie tut mir furchtbar leid. Ist überhaupt schon mal jemand rausgeworfen worden? Kann man sich dann noch einmal bewerben? Wann?
»Weià dein Vater Bescheid?«, frage ich schlieÃlich.
»Sicher«, sagt sie reglos.
»Kann er nichts tun?«
Jenny schnaubt. »Den brauche ich nicht anzurufen.«
Bei der Visite ist Jenny wieder dabei. Doch sie geht nur mit und nimmt demonstrativ nicht teil. Sie ist bockig und ablehnend gegen uns alle. Als Paul ihr die Tür aufhält, bleibt sie stehen, bis er endlich doch vorangeht. Als Dr. Ross ihr eine Frage stellt, zuckt sie nur die Schultern. Wen bestraft sie hier? Glaubt sie, dass diese Trotzköpfchen-Tour der richtige Weg ist?! Paula Schwab ist wieder unsere letzte Station. Dr. Ross verliert kein Wort darüber, dass nicht mehr Jenny Frau Schwabs Visite hält. Paula Schwab sieht zur Wand; sie ist wieder so abweisend wie zu Anfang. Dr. Ross erklärt die Gastrektomie, der Tumor soll operativ entfernt werden. Vorher aber soll sich Paula Schwab einer Chemotherapie unterziehen, die die Tumormasse verkleinern soll. Paula Schwab nimmt das mit unbewegtem Gesicht entgegen. Jenny steht an der Tür, auch sie reagiert nicht.
Nach der Visite gehen wir anderen wieder an unsere Aufgaben. Jenny hat nichts zu tun.
»Was machst du jetzt bis zur Fallbesprechung?«, frage ich und meine es gut.
»Nichts«, fährt sie mich an. »Hau ab!«
Gut, das tue ich. Bei allem Verständnis. Aber als ich mich noch mal umdrehe â eigentlich, weil ich hoffe, dass Jenny ihre Grobheit bereut â, sehe ich, wie sie in Paula Schwabs Zimmer verschwindet.
Der miese Tag hat auf jeden Fall einen Vorteil: Ich habe keine Angst vor der Fallbesprechung entwickeln können. Ich bin erst zehn Minuten vorher im Schulungsraum und wiederhole erst jetzt noch einmal im Kopf meinen Vortrag. Normalerweise hätte ich ihn mir in den letzten 24 Stunden tausendmal vorgesagt. Nun muss es so gehen. Leitsymptom, Krankengeschichte, Untersuchung. Weitere Diagnostik, Diagnose, Therapie, Verlauf. Es wird schon klappen. Als die anderen kommen, schiebe ich meine Zettel zusammen, mein Kopf ist leer. Ich gerate nur einmal ins Stocken. Ich bin überrascht, dass ich so schnell am Ende bin, aber als ich zur Uhr sehe, ist die halbe Stunde schon um. Es gibt nur wenige Fragen, ich kann sie beantworten, Dr. Ross nickt. Nach einer Stunde verlasse ich den Raum, als wäre ich nur Zuhörerin gewesen. Erst als Isa sagt: »Und ich habe das alles noch vor mir!«, wird mir bewusst, dass ich es geschafft habe.
»Gut gemacht«, sagt auch Jenny. Plötzlich gehen wir drei wieder nebeneinander.
»Wann ist deine Anhörung?«, frage ich.
Jenny sieht weg. »Morgen Nachmittag.«
»Hast du Angst?«
Jenny schnaubt. »Es ist mir völlig egal, was sie entscheiden. Hauptsache, ich weià endlich, woran ich bin!«
»Es ist mein Ernst«, sagt Isa, als wir vor den Spinden
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