Miss Emergency Bd. 3 - Liebe auf Rezept
auszudenken.« Sie trifft es genau.
Eine Schwester tritt zu uns, fragt müde, was wir hier tun. »Ich habe geholfen, ihn auf die Welt zu bringen«, sage ich und sie lässt mich bleiben. Meine Freundinnen jedoch müssen gehen.
Ich darf mir einen Stuhl holen und setze mich neben den Glaskasten. Das ist Pünktchens schwerste Nacht. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er sie allein durchstehen müsste.
Ich versuche mir anhand des Babygesichts vorzustellen, wie Pünktchen wohl als Junge aussehen wird, als Teenager, als Erwachsener. Ob er das schneewittchenschwarze Haar seiner Mutter bekommt? Seine Augen sind blau, babyblau, meistens ändert sich die Farbe nach ein paar Tagen noch einmal. Falls nicht, wird er vielleicht ein Mädchenschwarm, schwarzhaarig und blauäugig … Darf man so was denken, wenn noch nicht einmal klar ist, ob Pünktchen morgen Früh noch atmet?
Ich fahre jedes Mal zusammen, wenn es an einem der Kästen klingelt. An den Monitoren sind Alarmgrenzen eingestellt, bei jedem Klingeln kommt die Schwester und überprüft die Werte des jeweiligen Babys. Bei Pünktchen klingelt es nicht. Die Sauerstoffanzeige bleibt konstant. Er atmet gleichmäßig schwach. Auch die rote Anzeige der Herzfrequenz schwankt nur leicht. Das ist gut. Und gleichzeitig so traurig. Ich wünschte mir so sehr, dass endlich eine der Kurven ansteigt!
Um zehn kommt die Nachtschwester zur Übergabe, sie wird von ihrer Kollegin auf der Station herumgeführt und über den aktuellen Zustand aller Säuglinge informiert.
»Wen haben wir denn hier?«, fragt sie an Pünktchens Glaskasten.
»Frisch«, antwortet die Kollegin. »Heute Nachmittag entbunden, 33. Woche, Sauerstoff 85, Herz 120.«
Ich weiß, sie fasst nur nüchtern zusammen. Aber dass sie »mein« Baby nur »Frisch« nennt, trifft mich mitten ins Herz.
»Pünktchen«, sage ich lauter als beabsichtigt. »Er heißt Pünktchen!« Die Schwestern nicken, als sei das ein ganz normaler Name. Die Nachtschwester lächelt sogar. Für sie ist es vielleicht einfach nicht wichtig, wie die kleinen Wesen heißen, die sie heute bewacht. Aber für mich ist es genauso überlebensnotwendig wie die Kurve auf dem Sauerstoffmonitor, dass dieses Baby Pünktchen heißt – und nicht nur »Frisch«.
Sie kommt gegen elf, eine Schwester schiebt sie im Rollstuhl auf die Frühchenstation. »Sorry«, sagt die Schwester zu ihrer Kollegin, »aber sie hat ihn noch gar nicht richtig gesehen.«
Die Kollegin nickt und schiebt den Rollstuhl neben mich. Frau Frisch hat fast sieben Stunden geschlafen und zittert, als sei sie seit sieben Tagen wach. »Hallo«, sagt sie – zu mir und zu dem Wesen im Glaskasten. Sie kann ihren Blick nicht abwenden. Aber diesmal weint sie nicht.
Die Schwester erklärt Frau Frisch, was die Monitore bedeuten, die Schläuche, die Kurven, die Kabel. Frau Frisch hört vielleicht gar nicht zu, jedenfalls sieht sie die Schwester nicht an, nur Pünktchen. »Bleiben Sie ruhig einen Moment hier«, sagt die Nachtschwester und lässt uns allein.
Einen Moment sitzen wir schweigend. Hinter uns schrillt wieder ein Alarm los, Frau Frisch fährt zusammen, die Schwester eilt durch den Raum, dann ist es wieder still.
»Was soll ich tun?«, fragt Frau Frisch schließlich leise in meine Richtung. »Wie kann ich ihm denn nur helfen?«
»Reden«, antworte ich. »Sie können ihm zeigen, dass Sie da sind. Er erinnert sich auf jeden Fall an Ihre Stimme und es gibt ihm sicher ein gutes Gefühl.« Dass sie sonst nichts tun kann, kann ich ihr nicht sagen.
»Ich bin hier«, sagt Frau Frisch zu dem Kasten. »Hörst du mich?« Auf den Monitoren verändert sich nichts. Frau Frisch wiederholt es. Sagt, dass sie Pünktchens Mama ist und auf ihn aufpassen wird. »Er hört mich nicht«, meint sie irgendwann. So mutlos.
»Doch«, widerspreche ich. »Er hört Sie, er weiß, dass Sie da sind. Das hilft ihm, verlassen Sie sich darauf. Die Stimme der Mutter unterstützt Babys bei der Entwicklung. Säuglinge, die man akustisch stimuliert, brauchen schneller nicht mehr beatmet zu werden. Da gibt es Studien …« Mein Satz bleibt in der Luft hängen. Was nutzen Frau Frisch irgendwelche Studien, von denen ich nicht mal die Zahlen parat habe?! Doch sie sieht mich an und nickt.
»Kann ich ihn halten?« Zwar dürfte ich das nicht entscheiden – doch selbst wenn: Es ist definitiv noch zu früh.
»Morgen bestimmt«, antworte ich. »Vielleicht darf er morgenein bisschen auf Ihrem Bauch liegen. Aber jetzt muss er sich noch
Weitere Kostenlose Bücher