Miss Emergency Bd. 3 - Liebe auf Rezept
ausruhen.« Frau Frisch nickt wieder und ich denke, dass auch sie sich dringend noch ausruhen muss. Sie sieht so erschöpft aus, als könnte sie sich in ihrem Rollstuhl kaum noch aufrecht halten. »Morgen …«, wiederholt sie. »Er wird morgen noch da sein.«
Ich weiß es nicht.
»Ja«, sage ich dennoch. »Morgen früh kann er vielleicht schon allein atmen.«
Ihr Blick ist schwer zu ertragen. Hat sie durchschaut, dass ich das gar nicht wissen kann?
Die Schwester kommt zurück. Sie möchte, dass Frau Frisch in ihr Bett zurückkehrt. Frau Frisch will noch nicht gehen, dabei schläft sie vor Entkräftung fast in ihrem Stuhl ein. Sie kann sich nicht trennen, ich verstehe das. Doch sie darf nicht die Nacht hier verbringen. Sie muss ausgeruht sein für die Zeit, die vor ihr liegt. Aber ich kann hierbleiben. Ich verspreche es ihr.
»Und morgen«, sage ich, als Frau Frisch nach einem letzten Blick auf ihr Baby aus dem Raum geschoben wird, »morgen denken wir uns endlich einen richtigen Namen für ihn aus. Wenn er 13 ist und ein Mädchenschwarm, wird ihm ›Pünktchen‹ sicher nicht mehr gefallen.«
Sie nickt. Dann ist sie verschwunden und ich bin wieder allein mit den Glaskästen, den Monitoren und der leise durch den Raum schleichenden Nachtschwester.
Ich erwache von meinen Rückenschmerzen und weiß nicht, wie ich bei all dem Piepsen und Klingeln auch nur eine Sekunde schlafen konnte. Doch es ist fast halb zwei. Pünktchen schläft. Keine Veränderung auf den Monitoren. Die Nacht ist noch lang.
Neben mir sitzt jemand auf einem zweiten Stuhl: lange dunkle Haare, ein dunkles Gesicht. »Da sind wir wieder«, lächelt Dr. Al-Sayed. »Wir zwei Nachteulen.«
Ich bin schrecklich froh, dass sie da ist. Klar, es gibt eine Nachtschwester. Die Babys werden rund um die Uhr überwacht, auch Pünktchen. Aber es tut unfassbar gut, dass noch jemand den Kleinen einfach nicht allein lassen will.
Dr. Al-Sayed sagt nichts, sitzt nur neben mir und betrachtet den Glaskasten. Ob sie das für alle Neugeborenen tut? Hat sie kein Leben außerhalb des Krankenhauses? Fragen kann man das nicht.
Nach einer Weile sieht sie auf ihre Uhr und schickt mich nach Hause. »In sechs Stunden beginnt Ihre Schicht«, sagt sie. »Ich möchte mich darauf verlassen, dass Sie dann ausgeruht sind.« Darauf gibt es keine Widerrede. »Gute Nacht«, lächelt sie.
»Gute Nacht«, sage auch ich, obwohl sie nicht aussieht, als hätte sie vor, heute noch irgendwann ins Bett zu gehen.
An der Tür bleibe ich noch einmal stehen, ich muss es einfach wissen. »Bleiben Sie immer hier, wenn … so was passiert?«
Dr. Al-Sayed zuckt die Achseln. Sie sieht nicht müde aus, ihr Ton ist gleichmütig. »Sie verstehen das sicher«, lächelt sie leicht. »Ich kann nicht nach Hause gehen, wenn jemand auf meiner Station noch kämpfen muss.«
S o will ich auch sein! Dr. Al-Sayed beschäftigt mich den ganzen Morgen. Je öfter ich sie treffe, desto mehr erscheint sie mir wie das Arztideal, das ich selbst gern erreichen würde: unaufgeregt, aber immer zur Stelle. Engagiert, aber gelassen. Immer für alle da, ohne Aufhebens darum zu machen. Selbst meine gestern Nacht noch so beißende Angst um Pünktchen ist abgeklungen. Zu wissen, dass Dr. Al-Sayed an seinem Bett sitzen bleiben würde, hat mich beruhigt, als würde ihre bloße Anwesenheit Pünktchen schützen. Es ist einfach nicht vorstellbar, dass ihm etwas passiert sein könnte, solange sie bei ihm war.
Den ganzen Morgen kann ich von nichts anderem sprechen, als dass ich gern werden würde wie meine Oberärztin. Wenn irgendwann alle Ausbildungsjahre hinter mir liegen. Fragt sich bloß noch, WIE man so wird. Denn bisher habe ich an allen vorgesetzten Ärzten menschliche Schwächen entdeckt, verständliche Schwächen. Überlastung, Zynismus, eine gewisse Abstumpfung. Ich frage mich, wo Dr. Al-Sayeds wunder Punkt ist.
»Das kann ich dir sagen.« Jenny zieht die Nase kraus. »Sie hat kein Leben.«
Wahrscheinlich hat Jenny recht. Man kann keine Station leiten, nachts an den Betten kritischer Fälle Wache halten – und nebenbei einen Familienhaushalt führen, im Chor singen oder die Schularbeiten der Kinder betreuen. Dr. Al-Sayed sitzt sicher weder im Elternbeirat eines Kindergartens noch abends mit ihren Freundinnen beim Käsefondue. Wahrscheinlich hat sienicht mal einen Hund. (Vielleicht Fische. Fische wären möglich. Man würde sie nur nicht allzu oft sehen.)
»Willst du das?«, fragt Jenny. »Ist es das wert?
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