Miss Emergency Bd. 3 - Liebe auf Rezept
verlassen, nur weil es mir die Angst nimmt? So darf man als Ärztin nicht sein! Träume und Glauben sind im Arztberuf genauso verboten wie Orakel.
Schwester Evelyn sitzt an ihrem Empfangstresen, als hätte sie ebenfalls die Nacht hier verbracht. Ihr Gesicht ist unbewegt, als sie uns einen Guten Morgen wünscht. »Alles in Ordnung?«, frage ich und halte mich an ihrem Tresen fest, als sie nicht sofort antwortet.
Sie sieht endlich auf, viel zu langsam. »Was soll denn sein?«
»Das Baby von Frau Frisch …« Ich könnte sie schütteln; wie kann sie denn so gelassen sein?
»Ich hab nichts gehört«, entgegnet Evelyn cool. »Wir hatten zwei Spontangeburten, einen Not-Kaiserschnitt …«
Ja, das ist alles wichtig. Aber nicht für mich, nicht im Moment. »Nichts Neues von Frau Frisch« ist alles, was mich interessiert.
Ich weiß, mein Aufgabenplan auf der Station ist voll. Trotzdem, ich muss ganz kurz nach Pünktchen sehen. Eine Minute. Dann werde ich meinen Wagen doppelt so schnell schieben und dennoch alles vorbildlich vor der Visite erledigen, ich schwöre es. Ich will ihn nur für eine Sekunde sehen.
Hastig eile ich zur Frühchenstation. Eine mir unbekannte Schwester lässt mich ein, rapportiert kurz, als sei ich Pünktchens Ärztin. Keine Veränderung, aber auch keine Verschlechterung. Die Monitore piepsen vor sich hin, die Kabel und Schläuche an seinem Bett sind nicht weniger geworden.
»Stabil«, sagt die Schwester. »Stabil« heißt nicht »gut«. Aber es bedeutet mir alles. »Stabil« heißt »Hoffnung«.
Leider kann ich nicht bleiben, aber vielleicht finde ich nachher Zeit, Frau Frisch zu begleiten, wenn sie ihr Baby besucht. Jetzt muss ich zurück auf die Station. Bei Schwester Evelyn steht Dr. Seidler, einen Stapel Akten auf dem Arm. »Wo kommen Sie denn jetzt her?«
Ich erkläre ihr mein Bedürfnis, Pünktchens Zustand ganz kurz mit eigenen Augen zu überprüfen. Das muss sie doch verstehen. Sie selbst hat den Winzling doch entbunden, gestern genauso heftig für ihn gehofft. Doch die Stationsärztin enttäuscht mich.
»Der Kleine ist nicht Ihr Patient«, sagt sie. »Sie haben genug zu tun.« Damit drückt sie mir einen Stapel Akten in die Hand.
Ich muss den Reflex unterdrücken, patzig zu werden. Da ist er wieder: der Gegensatz zwischen Arztideal und Alltag. »In der Mittagspause können Sie gern nach ihm sehen. Oder nach Feierabend. Inzwischen muss es reichen, dass Sie sich darauf verlassen können, informiert zu werden, wenn sich etwas tut.« Schon ist sie verschwunden.
Ich lege meinen Wagenrundgang extra so, dass ich meine Patientinnen zuletzt besuche. Ich möchte ein bisschen Zeit für sie haben. In Zimmer 20 bei Frau Frisch ist es still, Schneewittchen schläft. Sie erwacht jedoch, als ich das Zimmer betrete, fährt hoch, entsetzt. Verdammt, ich habe ihr eine Scheißangst eingejagt. Nur durch mein Erscheinen. Frau Frisch ist ein Nervenbündel.
»Alles gut, alles gut!«, meine Stimme kiekst. »Ich komme nur zur Kontrolle!« Sie sinkt ins Kissen zurück, atmet tief durch. Mein Herz klopft, die Kanüle in meiner Hand zittert. Wir brauchen beide eine Minute, um uns zu beruhigen.
Sie hat ihn heute Morgen schon gesehen. Direkt nach dem Wecken hat sie sich hinüberbringen lassen, eine Viertelstunde mit ihm gesprochen. Sie sagt, dass sie es immer noch nicht glauben kann. Dass er es schaffen könnte. Jede Stunde ohne schlechte Nachrichten macht es leichter, daran zu glauben. Doch umso mehr sie wagt, sich darauf zu verlassen, desto größer istabsurderweise die Angst, wenn eine unsensible Fast-Ärztin in ihr Zimmer platzt. »Es ist, als ob ich ein Unglück provozieren würde, wenn ich anfange, zu fest dran zu glauben«, erklärt sie mir hilflos.
Ich kann sie verstehen. Es ist zu früh, sich darauf zu verlassen. Aber schrecklich und grundfalsch, die Schuld für eine eventuelle Verschlechterung bei der Hoffnung zu suchen, an die man sich geklammert hat!
Für Frau Frisch stehen heute mehrere Nachuntersuchungen an, aber wenn sie sich kräftig genug fühlt, sollte sie so viel Zeit wie möglich bei Pünktchen verbringen. Leider ist der Kleine noch zu schwach, um selbst zu trinken, deshalb muss die Muttermilch abgepumpt werden. Eine unangenehme, schmerzhafte Prozedur. Doch als ich sie bedauere, schüttelt Frau Frisch den Kopf. Sie hat sich von einer Schwester helfen lassen – und die Schmerzen bedeuten ihr gar nichts. »Gestern durfte ich doch noch nicht mal hoffen, ihn je zu sehen!«, lächelt sie.
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