Miss Emergency
gleich geben die vorgefalzten Knicke nach. Ich bringe kein Wort raus, das wäre ja auch zu viel verlangt von einem starren Karton-Aufsteller.
Thalheim steht auf, endlich. Sag DU doch was, Lena! Nein, konzentrier dich lieber darauf, dass du dich nicht genau jetzt einfach zusammenfaltest!
Und dann ist er bei mir, gerade noch rechtzeitig, bevor meine Pappbeine versagen. Er schließt die Tür hinter mir, nimmt mich in den Arm. Und jetzt fühlt sich die Papp-Lena an, als hätte sie jemand über Nacht im Regen stehen lassen, weich und hoffnungslos kipplig. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als mich an seinen Hals zu hängen.
Es vergehen bestimmt fünf Minuten, bevor wir wieder sprechen. Ich fühle mich immer noch nicht wie auf festem Boden, aber inzwischen ist es ein wunderbares Schwebe-Gefühl. (Wie passiert das nur immer?! Das muss ein Reflex sein. Veränderungen im Körperhaushalt, Neurotransmitter und Neurohormone. Du kannst gar nichts dafür, das hast du doch in der Neurobiologie-Vorlesung gehört, Lena! Du kannst deine Blutprobe auf die Serotonin-Werte überprüfen, wenn du einen Beweis brauchst. Nur die Neurotrophine sind verantwortlich dafür, dass du dich so unvernünftig verhältst! Und, tja, Herr Oberarzt, IHRE ja wohl auch?!)
Als der Kuss vorbei ist, höre ich Schritte auf dem Gang, Stimmen. In einer anderen Welt gehen Leute zum Mittagessen. Er sieht mir in die Augen, ich kann nicht wegschauen.
»Wo, denken sie, bist du?«, fragt er leise. Ich stottere den Quatsch von Paulas angeblich fehlenden Papieren herunter, was interessiert mich, was die anderen denken?! Thalheim schüttelt den Kopf, lächelt aber. »Das hat euch doch sicher niemand abgekauft!«
»Es hat ja keiner gefragt …«, antworte ich.
Er hält immer noch meine Schultern fest. »Ich suche dir ein EKG raus«, flüstert er. Und ich hoffe, dass das erst in einer Million Jahre geschieht. Meinetwegen können wir auch hier stehenbleiben und uns küssen, bis es Mitternacht ist oder alle anderen wirklich teleportiert wurden. Sie sind mir völlig egal.
Ihm leider nicht. Als nach einer viel zu kurzen Minute wieder jemand auf dem Gang vor seiner Bürotür vorbeiläuft, lässt er mich los. Draußen hört man eine ganze Gruppe schwatzender Schwestern, sie kichern und ihre Pantoffeln klackern. Thalheim tritt zurück, sein Gesicht wird wieder fast dienstlich. Das Getrappel auf dem Flur hört gar nicht auf. Mann, ist da draußen Osterspaziergang? Thalheim sieht mich an, wirkt irgendwie traurig.
Ich weiß – schuld sind die trappelnden Kichererbsen vor seiner Tür. Warum können wir nicht in einem Kloster arbeiten? In einem Schweigeorden? (Moment, Lena, in einem Kloster wäre es zu dieser Situation möglicherweise gar nicht gekommen.) Ich wünschte, ich könnte etwas antworten, das seine Sorge zunichtemacht. Es geht sehr wohl! Es geht wunderbar! Weil ich WILL, dass es geht. Es ist ungerecht, es ist abscheulich, dass wir uns nicht küssen sollen, nur weil da draußen zehn hungrige Schwestern vorbeipilgern. Auch wenn sie sich anhören wie eine japanische Fotogruppe. Ich sage nichts, denn seine Miene ist eindeutig. Er findet es falsch und unmöglich. Was tun wir denn jetzt?
Thalheim geht zum Schreibtisch, das Gesicht verschlossen. Er drückt einen Knopf am Computer, der Drucker spuckt ein Papier aus. Ich stehe immer noch regungslos mitten in seinem Büro. Er nimmt das Papier, drückt es mir in die Hand. Abschlussbericht der Patientin Schwab, intern, Verlegung. Was interessiert mich die Patientin Schwab?! »Nimm das mit hoch.« Und jetzt? Okay, ich habe mit der Küsserei angefangen. Aber er hat doch wohl mitgemacht! Ich wende mich zur Tür, meine Beine sind betonschwer, ich bin ein Zinnsoldat in Lebensgröße. Meine Schritte sind langsam, steif. Ich will nicht gehen. Nicht so.
An der Tür hält er mich zurück, berührt meinen Arm. »Lass uns nachher reden, Lena«, sagt er. »In Ruhe.«
Auf dem Gang herrscht wieder Stille, die Essenspilger sind vorbeigezogen. Für einen Moment denke ich erbittert, dass das einfach typisch ist. Wenn ich heimlich küssen will, toben sie ohrenbetäubendvor seiner Bürotür herum – und jetzt, da ich hier mit dem blöden Alibi-Zettel stehe, lässt sich keine Schwesternnase blicken. Eine Viertelsekunde später geht mir auf, dass das mein Glück ist. Denn mir steht wahrscheinlich in riesigen Druckbuchstaben ins Gesicht geschrieben, was gerade in Thalheims Büro passiert ist – so deutlich, dass der kleine blöde
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