Miss Emergency
Geste: Ruben winkt mir quer durch den Raum zu und ruft: »Schätzchen, was hab ich dich vermisst!« Kein bisschen diskret. Okay, eine geheime Beziehung mit Ruben wäre die maximale Herausforderung; er ist schlicht nicht in der Lage, seine Gefühle NICHT hinauszuposaunen. Alle gucken, ich werde rot. Da ist Dr. Thalheim mit seiner übervorsichtigen Distanz doch die bessere Wahl. Moment, Lena, du WOLLTEST gar keine Geheimromanze! Wäre es nicht – zumindest wenn man ein wenig abgehärteter gegenüber neugierigem Kollegengetuschel ist – viel schöner, die Freundin von jemandem zu sein, der unbedingt alle Welt wissen lassen muss, dass er sich überschwänglich freut, dich zu sehen? Schluss jetzt, Lena, was kann denn Thalheim dafür, dass Ruben so einen Knall hat?! Mein blauhaariger Freund jedenfalls kommt extra um seinen Tresen herum und küsst mich wie die verlorene Tochter vor allen Leuten.
»Also hat es geklappt mit euch beiden?!«, fragt er begeistert, aber wenigstens leiser. Ich bin irritiert, er lacht. »Du warst nicht hier, er war nicht hier … da reimt sich ein gescheiter Mann doch zusammen, dass ihr die gestrige Mittagspause zu zweit verbracht habt.«
Hm. Da bleibt mir ja nur zu hoffen, dass die anderen hier nicht ganz so gescheit sind. Ich beruhige mich schnell damit, dass momentan zum Beispiel Isa und Jenny fehlen … und der attraktive Dr. Gode. Da vermutet doch jetzt auch keiner was! (Okay, Isa würde NIE – und Jenny ist ja wohl im OP.) Doch als ich Ruben gerade erkläre, dass gleichzeitige Abwesenheit einfach überhaupt nichts bedeutet, betritt ER die Cafeteria und zwinkert mir zu.Ganz kurz, eine winzige Geste, eigentlich nur für mich zu sehen. Und für Ruben, der immer noch neben mir steht und diese am kühlen Dr. Thalheim äußerst unpassend wirkende Augensprache natürlich bemerkt hat. Ruben wirft mir einen vielsagenden Blick und ein breites Grinsen zu und verschwindet wieder hinter seinem Tresen. Und Dr. Thalheim wiederum hat nun natürlich DAS bemerkt und geht daraufhin an mir vorbei, ohne mich noch eines einzigen Blickes zu würdigen. Er nimmt einen Apfel vom Tresen, bestellt einen Kaffee und sieht Ruben dabei so durchdringend an, dass die blauhaarige Frohnatur sich jeden Hauch eines Grinsens verkneift. Okay. Wenn mir bisher nicht klar war, dass das hier eine verdammt komplizierte Sache wird – jetzt gibt es keinen Zweifel mehr. Ich rechne damit, dass Thalheim die Cafeteria sofort wieder verlässt. Doch er setzt sich mit seinem Kaffee und seinem Apfel an einen Tisch in der Nähe und ich bilde mir ein, dass er trotz Geheimhaltungsgebot wenigstens in meiner Nähe sein will. Und Ruben macht mich mit einer bezaubernd sensiblen Geste glücklich: Er schenkt mir auch einen Apfel. Offenbar ist er ein Romantiker wie ich.
Existiert noch irgendein anderer Mensch, bei dem so berechenbar wie bei mir schöne Erlebnisse unvermeidlich Gemeinheiten im Schlepptau haben? Ich kann mich drauf verlassen, auch wenn ich mich selbst nach über zwanzig Jahren noch nicht damit abgefunden habe: Wenn mir jemand einen Luftballon schenkt, kommt in der nächsten Minute ein Hagelschauer. Eisig und nadelspitz. Meine Schneekönigin heißt Dr. Thiersch, betritt in diesem Moment die Cafeteria und mustert mich frostig. »Ach, HIER sind Sie pünktlich?!«, sagt sie. Laut und schneidend. Wieder ziehe ich alle Blicke auf mich. Vor der gesamten Cafeteriabesetzung stehe ich da wie die unzuverlässigste Tagediebin – nur daran interessiert, pünktlich beim Essen zu sein. Dr. Thiersch sieht auf die Uhr. »In fünf Minuten haben Sie Visite.« Ich nicke nur, was soll man dazu auch sagen. Dass du noch nie zu einer Visite zu spät gekommen bist, Lena! Na ja, bis heute Morgen. Dr. Thiersch nimmt ebenfalls einen Apfel (Mann, ist hier dasSchneewittchenfieber ausgebrochen?) und zerstört damit meine geheime Thalheim-Verbindung. Und sie hat immer noch nicht genug. Als ich den Kriegsschauplatz verlassen will, mustert sie mich noch einmal von oben bis unten und fragt – immer noch nicht leiser – »Und wo, bitte, ist Ihr Namensschild?«
Das liegt auf der Heizung zu Hause. Weil es gestern, in einer anderen, tausendmal schöneren Welt in einer Regenpfütze lag. Ich stammle eine Entschuldigung. Und weiß genau, was jetzt all die anderen denken müssen: Unpünktlich, verfressen – und schlampig. Ich fühle mich gedemütigt, ganz klein. Leider schaue ich genau in diesem Moment wie automatisch zu Thalheim hinüber. Ich weiß, er kann
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