Miss Emergency
besser. Sie hat Schmerzen unter dem rechten Rippenbogen, bekommt aber bereits ein Analgetikum über den Tropf. Ich gebe ein zweites Schmerzmittel und nach meiner Erfahrung beim vorhergehenden Patienten vergesse ich auch nicht, ganz deutlich zu sagen, dass die Schmerzen vollkommen normal sind. Ihre Werte sind ausgezeichnet. Heute Abend darf sie vielleicht schon das erste Mal aufstehen und es kann gut sein, dass sie heute Mittag bereits mit der Aufnahme flüssiger Nahrung beginnen kann. Wenn alles gut läuft, wird sie sicher in drei Tagen entlassen. Frau Schneider hat nur eines gehört: »Kriege ich dann jetzt einen Kaffee?«
Ich muss lachen. »Morgen, einverstanden?« Sie schnaubt. »Ich verzichte seit drei Tagen darauf. Ich bin überhaupt kein Mensch mehr.«
»Versprochen«, entgegne ich, »sobald Kaffee wieder erlaubt ist, bringe ich Ihnen eigenhändig eine Tasse ans Bett.«
Sie nickt. »Ein Kännchen wäre mir lieber.« Ich verspreche ihr sogar zwei. Gar kein Problem für die große Ärztin mit dem Herz für kleine Wünsche …
Ziemlich zufrieden verlasse ich Zimmer 6. Gegenüber bei der 4 steht die Tür offen. Frau Jahn ist schon im OP. Ich drücke Isa kurz, aber heftig die Daumen, dass heute keine Ohnmachtsanfälle ins Haus stehen. Dann will ich eigentlich nur kurz die Tür schließen, immerhin sind persönliche Gegenstände der Patientin im Zimmer, als es klingelt. Ein typischer Standard-Handy-Klingelton lässt mich regelrecht zusammenfahren. Wie konnte mir auch das noch passieren?! Handys haben auf der Station nichts zu suchen und ich wette, genau jetzt kommt wieder jemand über den Flur und erwischt mich beim nächsten Regelübertritt. Hektisch klopfe ich meine Kitteltaschen ab. Doch da ist kein Handy. Es klingelt auch gar nicht an meinem Körper; wäre ich nicht so peinlich um meine Fehlerquote besorgt, hätte ich schonbeim ersten Klingeln erkannt, dass der Ton aus Frau Jahns Zimmer kommt. Hm. Patienten dürfen aber auch kein Mobiltelefon benutzen, es muss, wenn schon im Nachttisch, dann auf jeden Fall ausgeschaltet sein. Ich trete näher. Es klingelt aus der Nachttischschublade. Immer weiter … hat sie keine Mailbox? Darf ich es anfassen und ausschalten? Oder ist das Öffnen einer fremden Schublade schon ein Übergriff? Das Klingeln setzt aus – und beginnt in der nächsten Sekunde erneut. Jemand gibt nicht auf. Ich ziehe die Schublade auf. Das Handy ist ein begehrenswert neues Modell. Und auf dem Display steht Büro . Also drangehen werde ich nicht. Ich drücke auf Ablehnen und will das Telefon zurücklegen, da klingelt es schon wieder. Büro . Hmpf. Ich drücke ein zweites Mal Ablehnen und bin weder davon überrascht, dass es sofort abermals klingelt, noch davon, wer schon wieder anruft. Ach, soll ich mal eben in den OP stürmen? Hat Frau Jahn im Büro nicht Bescheid gesagt, dass sie momentan ganz schlecht erreichbar ist? Hat sie den Safe-Schlüssel mit ins Krankenhaus genommen und vorher versehentlich den Chef drin eingesperrt? Ich kann dem Büro jedenfalls nicht helfen. Ich schalte das Telefon ganz aus und lege es in die Schublade zurück. Da liegt der Notizblock. »Komm schon, Lena«, sagt der kleine Teufel in meinem Kopf. »Das ist DIE Gelegenheit, herauszufinden, was es Tiefgreifendes über Charlotte-Link-Lektüre zu notieren gibt.«
»Mein liebes Fräulein«, sagt der gesunde Menschenverstand mit der Stimme meines Vaters. »Wenn du dich daran vergreifst, kannst du auch gleich Mamas Tagebuch lesen.« Und dann rutscht der Notizblock ganz zufällig von dem Buch, auf dem er gelegen hat, und öffnet sich ein bisschen. Ich muss ihn gar nicht anfassen, um eine endlose Zahlenkolonne zu erkennen. Es sieht aus wie Geldbeträge und sie sind keineswegs in Taschengeldhöhe. Das hat definitiv nichts mit Liebesromanen zu tun, erklärt aber vielleicht Frau Jahns nervöse Anspannung. War meine Teure-Nachthemden-Schulden-Theorie doch nicht ganz falsch? Fest steht jedenfalls: Das hier geht mich gar nichts an. Eilig schiebe ich die Lade wieder zu.
Zur Mittagspause muss ich heute allein gehen. Meine Freundinnen haben ja Wichtigeres zu tun; Isa ist hoffentlich schon beim Zunähen – ohne Zwischenfälle! – und Jenny sollte sich langsam auf den Weg zu Händewaschen und innerer Sammlung machen.
Im Aufzug kommt das Herzklopfen. Ich hoffe so, ihn zu sehen. Und auf ein kleines, für alle anderen unsichtbares, geheimes Zeichen unter Heimfahrgefährten.
Zu meinem Empfang gibt es erst mal eine gar nicht heimliche
Weitere Kostenlose Bücher