Miss Emergency
nichts ist mehr seltsam.
»Wo warst du denn?«, fragt Isa besorgt, als ich die Tür öffne. Mist, ich hatte gehofft, dass meine Freundinnen noch schlafen. Doch selbst Jenny ist schon auf. »Was glaubst du denn?! Oberarztvisite!«, lacht sie respektlos. Und da stehe ich, halte immer noch seinen Kaffeebecher in der Hand und mein Pullover riecht nach ihm. »Genau«, sage ich und kann nicht aufhören zu grinsen. »Oberarztvisite.«
I ch gehe durch den Morgen wie in Watte. Kann es sein, dass meine Füße den Boden gar nicht wirklich berühren? Es ist nicht schlimm, dass meine Freundinnen heute zu sehr mit sich beschäftigt sind, um mir allzu viel Tobias-Redezeit gewähren zu können. Für mich selbst wiederhole ich innerlich ohnehin noch jeden einzelnen Satz, jede Geste tausendfach.
Isa schleppt ein unangenehmes Gespräch vor sich her; sie muss mit einem der Ärzte darüber reden, welche Möglichkeiten es für eine Versetzung nach München gibt. Ich versuche, das Thema ein wenig von mir fernzuhalten, möchte den Gedanken, dass sie uns verlässt, verdrängen. Doch auch Isa ist noch keineswegs fest entschlossen. Stattdessen steckt sie in einer Isa-typischen Zwickmühle. »Wenn ich nicht bald frage, denkt Tom, ich will nicht mit. Aber wenn ich frage, ist es offiziell und dann denken alle, ich will weg!« Seit zwei Tagen schiebt sie das Gespräch schon vor sich her.
»Aber was WILLST du denn?!«, frage ich verwirrt. Warum geht es schon wieder nur darum, was die anderen denken, was sie wollen könnte?!
»Ich weiß es nicht!«, sagt Isa traurig. »Beides.« Sie seufzt und setzt dann leise hinzu: »Dass alles so bleibt, wie es ist …« Niemandem wäre das lieber. Aber das ist das Einzige, was NICHT geht.
Jenny ist nicht in der Lage, sich mit unseren Zukunftsaussichten zu befassen. Für sie zählt heute nur das Jetzt, das Gleich. »Oberbauchlaparotomie«, sagt sie uns vor. »Exploration der Bauchhöhle. Beurteilung von Lage und Ausdehnung des Tumors.Der Tumor liegt im mittleren Magen-Drittel. Freipräparation, Resektion des Tumors mit Sicherheitsabstand, Netzentfernung, Lymphadenektomie.« Sie ist ein wandelndes Lexikon und ich habe langsam Angst, dass sie sich verrückt macht.
»Jenny«, sage ich beschwörend, »nichts davon musst du selbst tun!«
»Ich weiß«, erwidert sie energisch. »Ich bin nur der dritte Assistent und darf höchstens mal die Schlinge halten. Aber wenn ich nicht jeden Schritt ganz genau kenne, stehe ich es nicht durch! … Wisst ihr was?«, fragt sie schließlich. »Man dürfte die Patienten gar nicht kennen. Dann wäre man nicht so nervös.«
Wahrscheinlich hat sie recht. Ich kann mir nicht vorstellen, einen Freund zu operieren, ein Familienmitglied. Es hat schon seinen Sinn, dass so was nicht üblich ist. »Wenn du es nicht kannst, sag ab«, rate ich ruhig, »Dr. Thiersch findet sicher Ersatz.«
Doch davon will Jenny nichts hören. »Spinnst du?!«, faucht sie. »Ich lasse doch Paula nicht im Stich!«
Als wir die Klinik erreichen, sind wir alle drei nervös. Aber meine Anspannung ist Ungeduld, meine Zappeligkeit ist bloße kribbelnde Vorfreude.
Zur Morgenvisite ist noch alles in Ordnung. Paula Schwab ist gelassen und erklärt Dr. Gode, sie habe volles Vertrauen in Jenny. Immer noch benimmt sie sich, als würde Jenny die OP allein durchführen. Ich merke, dass Paulas Zutrauen Jenny Kraft gibt; am Ende der Visite ist von ihrer Anspannung nichts mehr zu merken.
Ich nehme die Abschlussuntersuchung an Frau Jahn vor und Dr. Gode entscheidet, dass die Patientin heute entlassen wird. Es geht mir nicht richtig gut damit, doch Frau Jahn ist fest überzeugt, dass es das Beste für sie ist. Und so bleibt mir nichts, als ihr zu zeigen, wie sie selbst die Thrombosespritze setzen kann und ihr dringend ans Herz zu legen, sich nicht zu überanstrengen und auf keinen Fall auf Gehstützen und Schiene zu verzichten oder die Kontrolltermine und die ambulante Reha zu vernachlässigen. »Versprechen Sie mir, dass Sie sich so gut und so viel schonen, wie es nur geht!«, bitte ich, als ich ihr den Arztbrief aushändige.
Sie nickt. »Ich weiß, Sie haben es gut gemeint«, sagt sie zum Abschied. »Aber Sie machen Ihre Arbeit und ich mache meine.« Dann humpelt sie an ihren Krücken zum Aufzug und ich kann nichts weiter tun, als ihr die Daumen zu drücken.
Kurz vor der Mittagspause eilt Dr. Thiersch über den Flur; nur im Vorbeigehen winkt sie Jenny mit sich. Wir denken uns nichts dabei – OP-Vorgespräch, bei
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