Miss Emergency
ein grundlegend anderes. Das ist vollkommen klar. Ich wusste bisher allerdings nicht, dass das nicht nur für den Patienten gilt. Sondern auch für mich. Am Tag nach der OP fühlt sich alles anders an. Dr. Gode lobt mich vor allen, die Mit-PJler lauschen gespannt meinem Bericht. (Okay, den Heulkrampf verschweige ich.) Ein Chirurg grüßt mich auf dem Flur. Und Dr. Thiersch ringt sich zwar kein Lob ab, bemerkt aber beinahe lächelnd, dass ich meinen Teil der Abmachung glücklicherweise erfüllt habe, und teilt mich für eine neue OP-Assistenz ein. Mein erster Besuch bei Professor Dehmel ist der Höhepunkt meiner Belohnungsrunde. Er kann noch nicht sprechen, doch er nickt mir zu. Ich erkläre ihm, was die Elektroden auf seinem Bauch bedeuten und wann die Drainagen entfernt werden können. Er streckt die Hand nach dem Blumenstrauß auf seinem Tischchen aus und gestikuliert schwach – so lange, bis ich begreife und mir eine der Blumen nehme.
Nur als ich abends in Tobias’ gemütlichem Wohnzimmer den OP-Bericht fertig schreibe, den Dr. Thiersch von uns verlangt, kommt noch einmal das Zittern zurück. Jetzt wird mir erst richtig klar, was alles hätte passieren können. Schlaganfälle, Nierenversagen, Herzinfarkt während der Operation – mir wird doch noch einmal ziemlich schlecht, als ich für meinen Bericht all die Risiken zusammenfasse. Ich drücke den Glückskuli in meiner Hand, bis meine Fingerknöchel weiß werden. Was haben wir für unfassbares Glück gehabt!
Tobias setzt sich neben mich, überfliegt mein Protokoll. »Das genügt«, sagt er ruhig. »Wenn Du jetzt nicht noch den Bauplan für die Dehmelmaschine anfügen willst, lass es gut sein!«
Ja, natürlich habe ich von der Dehmel-Methode erzählt. Und von der neuen Dr. Thiersch. Und von Schwester Jana, die wir hinterhältig befragt haben, wer ihrer Meinung nach ständig unsere Angelegenheiten der Oberärztin hinterherträgt. Davon, wie sie sich herausgeredet hat und von Jenny in unnachahmlicher Art zusammengestaucht wurde. Und davon, dass sie seitdem nicht mit uns spricht und uns morgen ganz bestimmt Mottenpulver in den Kaffee schüttet. Ich erzähle, dass Jenny und ich uns bald von unseren aktuellen Lieblingspatienten verabschieden müssen, weil Paula und mein Professor demnächst zur Anschlussbehandlung verlegt werden. Ich rede eigentlich die ganze Zeit, auf der Autofahrt, beim Kochen, beim Abendessen. Bei unserem Schnellfrühstück merke ich plötzlich, dass ich die ganze Unterhaltung während meines Übernachtbesuchs allein bestritten habe. Ich rede einfach zu viel. Findet er das auch? Bin ich zu kindisch? Vielleicht langweile ich ihn? Vielleicht schon seit gestern Abend? Abrupt verstumme ich mitten im Satz. Schweigen. Er sieht vom Kaffee auf, verwundert. »Erzähl doch weiter«, lächelt er.
»Ich hab gerade das blöde Gefühl, dass ich die ganze Zeit allein rede«, gebe ich zu. »Kannst du nicht auch mal was erzählen?«
Er sieht mich an, lieb. »Ich kann das nicht so gut wie du.«
Hm. Ehrlich gesagt führt das nicht dazu, dass ich mich wieder entspanne und Lust habe, munter weiterzuplaudern. Sondern dazu, dass ich mich ziemlich blöd fühle. Was würde er tun, wenn ich jetzt nicht hier wäre? Radio hören? (Soll ich mal zwischendurch was singen – zur Abwechslung?) Denn er erzählt nie etwas, nicht von seiner Arbeit, schon gar nichts Privates. Ich MUSS ja so viel reden, sonst würde zwischen uns dauernd Schweigen herrschen. Warum?
»Tanz doch endlich mal wieder mit uns durch den Feierabend«, sagt Jenny am nächsten Tag, als ich meine Wenn-ich-nicht-rede-herrscht-Schweigen-Beobachtung mit meinen Freundinnenteile. »Ich schwöre dir, wir plappern die ganze Zeit so auf dich ein, dass du überhaupt nicht zu Wort kommst!« Jenny glaubt, dass die Liebe abgeflaut ist. Aber das stimmt nicht. Auch heute kribbelt es in meinem Magen, als ich über den Flur der Inneren gehe. Die Vorstellung, dass er gleich seine Tür öffnet und mir gegenübersteht, lässt Glücksblasen in meiner Magengegend aufsteigen, obwohl wir uns erst heute Morgen kurz vor der Klinik verabschiedet haben.
»Vielleicht kannst du dich nicht daran gewöhnen, dass ihr so unterschiedlich seid«, sagt Isa und es könnte sein, dass sie der Sache näher kommt. Ich genieße die Vertrautheit, wenn wir nebeneinander einschlafen, zusammen aufwachen, gemeinsam arbeiten. Aber die ganze Zeit ist es, als erwarte ich, dass da noch mehr kommt. Dass wir uns noch näherkommen, er irgendwann ebenso
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