Miss Emergency
Jobangeboten durchforstet. Für Tom natürlich. Er soll den besten und erfüllendsten Job Berlins bekommen. Hastig fährt Isa mit dem Finger über die spärlichen guten Angebote, nichts dabei, sie faltet eine Zeitung zu und eine andere auf. Wirsind gleich am Alex, sie hat keine Zeit mehr, die ganze Presse durchzusehen. Ich nehme ihr eine Zeitung ab, ihre rastlos-engagierte Suche rührt mich. Jenny behauptet, temporär-partielle Analphabetin zu sein – was bedeuten soll, dass sie zwischen zwei und acht Uhr morgens nicht lesen könne – und drückt sich. (Aber um sich solche Begriffe auszudenken, reicht die Energie!) Isa und ich ackern die Angebote durch, doch auch ich habe nach 17 Seiten nur zwei Annoncen vorzuweisen, ein Familienzentrum und einen Kinderladen, beides klingt nicht nach dem ultimativen München-Ersatz-Traumjob …
»Morgen«, sagt Isa entschieden. »Morgen finde ich was!« Ich hoffe, dass sich ihr hastig zusammengekratzter Optimismus bewährt.
Professor Dehmel geht es nicht gut. Er wirkt abwesend, spricht kaum. Vor der OP war er permanent mit Projekten beschäftigt, hat Pläne gemacht … Dabei stand ihm eine lebensgefährliche Operation bevor. Jetzt hat er sie überstanden – und all seine Lebensfreude ist verschwunden. Ich sitze an seinem Bett und bemühe mich, ihn zu unterhalten, abzulenken … vergeblich. Schließlich habe ich sogar das Gefühl, dass ihn meine Aufmunterungsversuche nerven. Vielleicht sollte er Besuch bekommen, bisher gab es nur Blumensendungen, kein Mensch hat sich leibhaftig blicken lassen. Ich schlage in der Akte nach; der Professor ist geschieden und kinderlos. Seine längst vergangenen Scherze über Exfrauen legen nicht unbedingt den Schluss nahe, dass er eine von ihnen gerne sehen würde. Als Kontaktperson hat er einen Anwalt angegeben. Ist das ein Freund? Ein Juristen-Freund? Oder wirklich nur sein Rechtsanwalt? Ein Mann in seinem Alter muss doch Freunde haben!
»Wollen wir mal Besuch einladen? Ihre Kontaktperson?«, frage ich – und dann, in der Hoffnung auf ein Lächeln: »Oder die am wenigsten schreckliche Ihrer Exfrauen? Oder alle gleichzeitig?«
Die Miene des Professors bleibt ausdruckslos. »Was sollen die denn hier?«, fragt er nur leise. Klar, seine deprimierte Stimmungist kein Wunder. Hilflosigkeit, Stress, Zukunftssorgen. Und den ganzen Tag mit seinen Gedanken allein, keine Chance auf Ablenkung, einen Ausgleich. Nur eine Hilfsärztin, die ständig auf ihn einplaudert und glaubt, mit lahmen Scherzen seine Laune heben zu können. Aber ich gebe nicht auf. Wenn außer mir keiner für den alten Mann da ist, muss ich eben tun, was ich kann. Ich erzähle vom Schnee, vom nahenden Weihnachtsfest und (subtil, Lena!) warum sich auch einsame Menschen darauf freuen können. Ich bleibe so lange sitzen, dass ich fast das Vorbereitungsgespräch für die Kreuzbandriss-OP verpasse, zu der mich Dr. Thiersch heute eingeteilt hat.
Selbst am Abend vor Tobias’ Kamin verschwende ich nur wenige Worte an die OP. Klar, ich bin zufrieden, sie lief ausgezeichnet und ich bin nicht nur nicht umgefallen, sondern durfte sogar den Drainageschlauch annähen, der ins Kniegelenk gelegt wurde. Doch die drastische Persönlichkeitsveränderung meines früher so aufgeschlossenen Professors beschäftigt mich mehr. Wie kann ich ihm denn nur helfen? Tobias umarmt mich, schüttelt den Kopf. »Das ist eine typische Reaktion auf die körperliche Stresssituation der OP«, sagt er nüchtern. »Auch darum werden sie sich in der Rehaklinik kümmern, versprochen.«
Natürlich hat er recht. Und es ist schön, wenn jemand deine Sorgen mit sachlichen Argumenten entkräftet und dir liebevoll klarmacht, dass du mal wieder übertreibst. Aber ein ganz kleines bisschen wünsche ich mir, er würde mal etwas antworten wie »komm, wir entführen ihn aus dem Krankenhaus und fahren mit ihm nach Disneyland«. (Rekordverdächtig, Lena, gleich drei absolute Undenkbarkeiten in einem einzigen Gedankenblitz!) Bin ich ungerecht? Ist es nicht gerade seine abgeklärte Art, seine stille Überlegenheit, in die ich mich verliebt habe? Warum kann ich nicht einmal glücklich sein mit dem, was ich habe?! Halt! Ich BIN glücklich. Er hält mich fest, streicht mir die Haare aus dem Gesicht, lächelt, beruhigt mich. Gibt mir das Gefühl, nichts sei wichtiger als meine Sorgen – und er könne sie alle aus der Welt schaffen. Es gibt keine einzige Verbesserungsmöglichkeit für diesenMoment! Wir beide, das Feuer, Musik, sein
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