Miss Emergency
S-Bahn-Strecke werden Weihnachtsmärkte aufgebaut, ringsum ragen die Skelette der Riesenräder und Schiffsschaukeln in den nebligen Himmel. Ich frage mich, wer die alle besuchen soll; ist Berlin wirklich so groß oder ist das die typische Selbstüberschätzung? Über die Feiertage bekommen wir frei, Isa und ich wollen heimfahren. Nicht mehr lange, dann werde ich bei Mama und Papa unter dem Tannenbaum sitzen. (Ob Mama enttäuscht ist, wenn ich sie bitte, dieses Jahr keine Weihnachtsdeko aufzubauen?) Welch ein Unterschied zum letzten Jahr … Wissen sie, dass sie eine ganz andere Tochter zurückbekommen? Eine Berlinerin, eine Oberarztfreundin? Eine erwachsene Ärztin?
Die Arbeit vertreibt unsere Heimreisegedanken; der Chefarzt hat sich zur Visite eingefunden. Ich darf Professor Dehmel vorstellen, der gestern von der Intensivstation zurück zu uns verlegt wurde. Die Drainagen sind entfernt worden, Dehmels Herz arbeitet normal. Die Heilung des Brustbeins wird sicher noch sechs Wochen brauchen, so lange bleibt der Professor aber nicht bei uns. Noch vor Weihnachten wird er in eine Rehaklinik verlegt. Bei der Chefarztvisite sagt Dehmel gar nichts, obwohl Dr. Dr. Kreuz ihn mit Namen anspricht und seinen besonderen Tonfall anschlägt, der für Habilitierte reserviert ist (im Weltbild des Chefarztes irgendwie eine andere Liga Menschen). Professor Dehmel nickt nur desinteressiert. Schon gestern ist mir aufgefallen, dass er sich verändert hat. Erst ist die Vertraulichkeit verschwunden, dann die Scherze, zuletzt die Höflichkeit. Ich weiß, er hat Schmerzen und kommt nur langsam wieder zu Kräften. Wir tun alles, um ihm das zu erleichtern, dennoch ist es eine schwere Belastung für den Körper. Aber, das mag plump klingen,trotzdem: Freut er sich nicht, dass alles überstanden ist? Am Leben zu sein?
Ich muss mir mehr Zeit für ihn nehmen, ihm vielleicht noch einmal erklären, dass die so langsame Heilung ganz normal ist. Ihn irgendwie ablenken. Ich schließe die Visite ab, der Chef ist zufrieden, Dr. Gode zwinkert mir zu. Keiner der anderen scheint zu merken, dass der Professor sich verändert hat.
Bei Paula Schwab bietet sich der Runde ein ganz anderes Bild. Ich habe noch nie erlebt, dass sie mit jemand anderem als Jenny mehr als drei Worte wechselt. Doch heute spricht sie; nicht nur mit dem Chefarzt, selbst mit Dr. Gode. Nein, nicht freundlich, nicht weniger geringschätzig als vorher.
»Wo ist mein verdammter pürierter Seeteufel?«, fragt sie unseren Sonnyboy. Kurz wechseln wir konsternierte Blicke, doch Jenny grinst ihre Patientin an und sagt zum Chefarzt: »Sie können es wahrscheinlich nicht schätzen, aber dass die Patientin wieder Freude an Grobheiten hat – und die Kraft dafür –, ist einer unserer größten Therapieerfolge.« Der Chef stirnrunzelt missbilligend, aber es ist wahr: Paula wird niemals eine höfliche, sanftmütige, ausgeglichene Frau. Wie schön, dass die schwere OP, die Schmerzen und die Angst sie nicht gebrochen haben!
Als ich das nach der Visite bei einem Belohnungskaffee erwähne, grinst Jenny. »Wir müssen Paula unbedingt bitten, das nächste Mal den Chefarzt zu beleidigen!« Ja, meine Freundin hat eindeutig einen Vogel.
A lles soll anders werden. Wir Mädels sammeln Endjahres-Pläne. Isa hat vor, Tom den München-Verzicht mit vollem Einsatz für seine Jobsuche zu entlohnen und überhaupt nie wieder Ansprüche an ihn zu stellen. (Süß: Als ich frage, welche Forderungen die sanftmütige, immer freundliche Isa denn genau in ihrer Beziehung gestellt hat, erwähnt sie ihre Bitte, sie regelmäßig anzurufen und an Vor-Arbeitstagen nach elf keinen Krach mehr zu machen!) Meine Veränderungswünsche sind ebenfalls privater Natur; ich hoffe, mit Tobias endlich einen Status zu erreichen, den ich getrost mit dem Wort »Beziehung« bezeichnen kann und ihn noch vor Weihnachten dazu zu bewegen, auf die Frage nach seinem Befinden EINMAL nicht nur »alles okay« zu antworten. Für Jenny schlagen wir vor, dass sie in ihrem Doppel-Beziehungs-Chaos aufräumt, sich spätestens zum neuen Jahr für einen ihrer Parallel-Verehrer entscheidet und den anderen erlöst. Jenny will davon nichts hören, aber vielleicht weckt unser Mitleid für die beiden Herren bei ihr wenigstens ein bisschen Sensibilität?
Isa kauft heute Morgen am Bahnhof vier Zeitungen und breitet sie in der S-Bahn vor sich aus. »Ich muss jedes Zeitfenster nutzen«, sagt sie etwas kläglich. Es stellt sich heraus, dass sie die Blätter nach
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