Miss Emergency
nicht gerinnt. Die Herz-Lungen-Maschine steht bereit, zur Sicherheit. Ich bete, dass wir sie nicht brauchen. Die Herzkranzgefäße werden fixiert, das Herz schlägt weiter. Was für eine unfassbare Kraft. Ein schlagendes Herz.
Der Bypass wird angelegt, es dauert nur zwanzig Minuten. Die Durchblutung wird freigegeben. Das Herz schlägt. Immer weiter.
Miriam lächelt, neutralisiert den Gerinnungshemmer und normalisiert damit die Blutgerinnung. Am Brustkorb werden Klebe-Elektroden angebracht, nur zur Sicherheit, falls das Herz des Professors nach der OP zu langsam schlägt und ein externer Schrittmacher angeschlossen werden muss. Der Chirurg untersuchtdie Wundoberflächen. Eine Blutungsquelle an einem kleinen Gefäß muss verödet werden, sonst ist alles in Ordnung. Unterhalb des Rippenbogens werden Drainagen eingelegt. Ich darf eine davon übernehmen. Immer noch funktioniert die Lena-Maschine wie ein Uhrwerk, wie das unermüdliche Herz des Professors.
Die beiden Knochenhälften des Brustbeins werden wieder zusammengefügt und fixiert. Die einzelnen Schichten werden zugenäht, ich darf die Brusthaut nähen; nach der Naht am Bein kommt es mir leicht vor, ich arbeite sorgsam, vielleicht etwas langsam, aber keiner treibt mich an. Fertig. Das war es. Wir haben es überstanden. Ich sehe den blassen, faltigen Professorenkörper an und begreife erst jetzt wirklich, was wir getan haben. Wir haben sein Herz freigelegt, operiert, sein schlagendes Herz. Während der OP habe ich an seine Gefäße und Organe nur als Teile gedacht, als Aufgabe, losgelöst. Jetzt, da der Professor in meinem Bewusstsein langsam wieder zu einem Menschen wird, scheint es unfassbar.
Miriam bringt den Professor auf die Intensivstation, wir Übrigen gehen uns umkleiden, waschen. Ich bin in Trance, die Maschine hat das Kommando übernommen. Ich schaffe es, mich auszuziehen, meine Hände zu waschen, zu lachen, als eine Chirurgin »Seit einer Stunde wünsche ich mir einen Kaffee« sagt. Okay, mein Lachen klingt leicht hysterisch. Trotzdem. Die Maschine ist cool, bedankt sich, lässt sich loben, verlässt den Umkleideraum. Und dann sitze ich auf der Treppe vor der Chirurgie und heule wie ein Schlosshund.
Ich kann überhaupt nicht mehr aufhören. Ich weiß, es ist nur die Anspannung, die von mir abfällt. Ganz normale Reaktion. Die Chirurgin geht Kaffeetrinken, ein anderer macht blöde Witze – und ich heule eben. So hemmungslos und haltlos wie noch nie in meinem Leben.
Irgendwann die entsetzten Gesichter meiner Freundinnen vor mir. Na klar, sie haben schreckliche Angst, dass etwas schiefgegangen ist. Ich schüttle den Kopf. Isa umarmt mich. »Aber warumheulst du denn dann so entsetzlich, liebe Lena?«, fragt Jenny fassungslos. Und mir fällt keine bessere Antwort ein als: »Weil ich brutal schlecht in Physik bin.«
Heute habe ich den Mut gepachtet. Was kann mich nach so einem Erlebnis noch erschüttern? Jenny ist ungeduldig, sie entlockt mir den Namen unserer heimlichen Widersacherin und will mit Schwester Jana aufräumen. Doch mir erscheint etwas anderes wichtiger. Ich gehe auf die Innere hinunter und klopfe an Tobias’ Büro.
»Was ist passiert?«, fragt er entsetzt, als er die Tür öffnet. Klar, die stundenlange Heulerei ist nicht spurlos an meinem Gesicht vorübergegangen. Er schließt die Tür, nimmt mich in die Arme, sein Herz schlägt schnell. »Entschuldige«, sagt er leise. »Er sitzt im Vorstand, da kann ich dich doch nicht … Ich wollte kein Gerede …« Wovon spricht er? Erst langsam dämmert mir, dass er das Essen am Samstag meint. »Dabei habe ich noch nicht einmal gewusst, dass ihr euch kennt!«
Ich sehe auf, schüttle den Kopf. »Vergiss es. War idiotisch, dass ich dort aufgekreuzt bin. Ich hatte keine Verabredung.«
»Ich weiß«, sagt er, »deswegen war ich doch so mürrisch. Dabei wolltest du nur … Es tut mir leid.« Ich mache mich los. Er sieht mich an, meine Augen sind sicher immer noch knallrot. »Was ist passiert?«
Ich räuspere mich, kann das Grinsen nicht mehr unterdrücken. »Nichts«, sagt die lässige Lena, der zitternden Stimme zum Trotz. »Ich hab nur eben eine Bypass-OP erledigt.«
Er schaut mich an, als sehe er mich zum ersten Mal. Und fände mich einfach wunderschön. »Ich freu mich so für dich«, sagt er und küsst mich. »Deine erste richtige OP. Dieses Gefühl – das ist das wahre Leben.«
Ich fühle mich zwei Meter groß. Mein Mut reicht für die ganze Welt.
D as Leben nach einer Bypass-OP ist
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