Miss Emergency
Erwachsenengeruch, sein Kuss. Was WILLST du denn?!
Mitten in der Nacht Telefonschrillen. Ich fahre hoch, weiß überhaupt nicht, wo ich bin. Das Fenster ist auf der falschen Seite, die Nacht davor dunkel, wo ist meine Straßenlaterne? Tobias, ich bin bei Tobias, irgendwas ist passiert.
Er ist schon aufgestanden, eilt durch das Schlafzimmer, zieht seine Jacke über, küsst mich schnell. »Schlaf weiter!« Ich setze mich auf, er ist schon hinausgegangen, sieht noch einmal ins Zimmer, fertig angezogen und aufbruchbereit binnen einer Minute. »Ein Notfall, Lena, ich muss in die Klinik.« Ich schwinge die Beine aus dem Bett, meine Füße finden den Teppich, ich muss mich beeilen. Tobias legt einen Schlüssel auf das Bett. »Leg dich wieder hin«, sagt er und »schließ nachher ab«. Dann ist er gegangen, die Wohnungstür klappt, Schritte im Treppenhaus, unten startet ein Auto, ich bin allein.
Müde lasse ich mich wieder in die Kissen sinken. Okay. Er lässt mich hier allein, in seiner Wohnung, in seinem Bett, mit seinem Schlüssel. Als wär das ganz normal. Als ob ich hierhergehöre.
Komm schon, Lena, was wäre er für ein Typ, wenn er dich mitten in der Nacht aus der Wohnung schmeißen würde, nur weil er zu einem Notfall muss?! Trotzdem. Er könnte sagen: »Tut mir leid, wir müssen sofort los, ich mach es wieder gut«, mich an der S-Bahn absetzen oder mit ins Krankenhaus nehmen. Stattdessen sagt er »Schlaf weiter«, legt den Schlüssel auf den Nachttisch, als wäre es ohnehin meiner. Ich bin fassungslos vor Glück. Eine dunkle wohlige Wärme in meinem Bauch. Ich kuschle mich zurück in die Kissen und frage mich, ob ich schon mal glücklicher war.
Halb sechs kann ich nicht mehr schlafen. Wenn ich jetzt in die Bahn steige, bin ich zu Hause, eh meine Freundinnen aufstehen. Oder ich bleibe noch ein wenig und tue, als würde ich hier wohnen.
Ich koche mir Kaffee, streife durch seine Wohnung, dusche ausgiebig, sehe in ein riesiges Handtuch gehüllt vom Balkonin den dünnen Schnee hinaus. Das herrliche Hierhergehören mischt sich mit dem aufregenden Gefühl, ein fremdes Leben auszuprobieren. Ich sehe mir seine CDs an, nehme ein paar seiner Bücher in die Hand, ziehe sogar den Pullover über, der auf der Sofalehne liegt. Ich bin nicht nur in seiner Wohnung, ich bin in seinem Leben. Und irgendwo hier ist sogar ein Bild von mir.
Das Zeitungsfoto liegt nicht mehr auf dem Schreibtisch. Ich weiß nicht, warum ich die Schublade öffne. Noch weniger, warum ich nicht damit zufrieden bin, dass mein Foto obenauf in der Lade liegt. Sondern noch nachschauen muss, was die Fotos darunter zeigen. Ist es der Wunsch, alles von ihm zu wissen? Oder bloße Neugier?
Die ersten Bilder sind von einer Feier, Tobias trägt einen Anzug, doch sein leicht ironisches Lächeln ist das mir so vertraute. Das Foto darunter ist ein Hochzeitsbild. Hier sieht er ganz anders aus, er strahlt, ein anderer, ganz fremder Tobias. Er legt den Arm um eine Frau. Ihr Brautkleid ist das schönste, das ich je gesehen habe.
Erst in der S-Bahn komme ich wieder zu mir. Ich weiß nicht, was schrecklicher ist – dass er so anders aussah, so glücklich, wie ich ihn noch nie erlebt habe? Oder dass ich nichts davon wusste? Sicher, meine Ich-will-ihn-nie-wiedersehen-Reaktion mag übertrieben sein. Aber im Moment kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie ich ihm je wieder gegenübertreten soll. Alles fühlt sich kaputt an.
»Das ist sicher lange her«, gibt Isa zu bedenken. Meine Freundinnen haben Kakao gekocht, sind voller Mitgefühl (Isa) und voller Wut (Jenny). Ich bin immer noch sprachlos. »Das ist es nicht wert, Lena«, sagt Jenny entschieden. »Sieh dich doch an!« Sie haben beide recht. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Ich überstehe den Kliniktag wie in Trance, drehe meine Patientenrunde, gebe bei der Visite die richtigen Antworten. Zum Mittagessen habe ich immer noch nicht entschieden, wie ich mit dem neuen Wissen umgehen, was ich ihm sagen soll. Also drücke ich mich und sitze stattdessen an Professor Dehmels Bett. Heutebin ich nicht zu Aufmunterungsscherzen aufgelegt, wir schweigen. Er wirkt sehr weit weg, es macht mich noch trauriger.
Der Wohnungsschlüssel brennt in meiner Tasche. Ich muss ihn zurückgeben. Vielleicht fallen mir ja die richtigen Worte ein, wenn ich ihm gegenüberstehe? Oder meine Enttäuschung kommt mir plötzlich doch lächerlich und übertrieben vor? Ich muss es versuchen.
Tobias lächelt, als ich auf den Parkplatz komme, öffnet
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