Miss Lily verliert ihr Herz
mir sympathisch und mehr nicht. Außerdem stellt sie eine – leider recht unsichere – Verbindung zu Batiste da.“
„Du glaubst also, dass sie dir helfen wird?“
„Keine Ahnung. Ich habe sie noch nicht gefragt.“
„Nun, ich drücke dir die Daumen. Doch jetzt muss ich los.“ Charles schwang sich in den Sattel. „Bis bald, Jack!“
„Bis bald!“ Er schaute seinem Bruder nach, bis dieser den Hof verlassen hatte. Dann stellte er fest, dass die Pferde eingespannt waren. Das Fell der frisch gestriegelten Hengste glänzte ebenso wie der polierte Lack der Kutsche. Ein schöner Anblick. Dennoch war Jack in diesem Moment alles andere als zufrieden. Gleich würde er Miss Beecham wiedersehen, und die Vorstellung machte ihn nervös. Er konnte nicht vergessen, wie ihr letztes Zusammentreffen verlaufen war. Die Unterhaltung hatte ständig unvorhergesehene Wendungen genommen. Und dann hatte er die junge Dame auch noch küssen wollen! Er schämte sich jedes Mal, wenn er daran zurückdachte. Wie hatte er die Selbstbeherrschung nur so weit verlieren können?
Er seufzte.
Lily war ihm sehr nah gewesen. Aber sie war keine Verführerin. Sie hatte so bedrückt, so hilfsbedürftig ausgesehen, dass er sie gern in die Arme geschlossen und getröstet hätte. Doch stattdessen war sie es gewesen, die die Hand in einer unschuldigen Geste nach ihm ausgestreckt hatte. Das hatte genügt, ihn alles um sich her vergessen zu lassen. Er hatte nur noch an ihr seidiges Haar, ihre weiche Haut, ihren vollen Mund denken können. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn Mr. Brookins nicht unvermutet die Bibliothek betreten hätte!
Miss Beecham konnte ihm gefährlich werden, das hatte er in jenem Moment begriffen. Deshalb hätte er sich eigentlich von ihr fernhalten sollen. Das allerdings war unmöglich, solange er ihre Hilfe bei der Suche nach Matthew Beecham benötigte. Nun konnte er nur hoffen, dass sie bereit war, ihm sein unbeherrschtes Benehmen zu verzeihen.
Seltsam, dass es ihm nach seinem beschämenden Verhalten trotz allem besser ging! Er hatte in der vergangenen Nacht wunderbar geschlafen, ohne von Albträumen gequält zu werden. Nun galt es, die Selbstherrschung zu wahren und alles zu tun, um bei Miss Beecham nicht endgültig in Ungnade zu fallen. Ein Ausflug aufs Land, verbunden mit dem Besuch einer interessanten Ausstellung und ein paar Vorträgen über die Angelsachsen, würde einer so wissbegierigen jungen Dame gewiss gefallen. Ja, es war an der Zeit aufzubrechen.
Jack stieg in den Landauer und rief dem Kutscher zu, er solle losfahren.
Es dauerte nicht lange, bis sie Dayle House erreichten. Vor der Tür war eine Gruppe sommerlich gekleideter Menschen versammelt, unter ihnen Minerva Dawson sowie ihre Mutter und ihr Verlobter. Und war das nicht sogar Lady Jersey? Jack riss die Augen auf.
In diesem Moment entdeckte er Miss Beecham. Sie winkte ihm fröhlich zu und rief: „Guten Morgen, Mr. Alden. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, dass Ihre Mutter und ich noch ein paar Freunde gefragt haben, ob sie uns begleiten wollen.“
6. KAPITEL
Staunend betrachtete Lily die große Halle von Chester House. Schon von weitem hatte das Gebäude im griechischen Stil sie beeindruckt. Doch als sie es dann betreten hatte, war sie von der klassischen Schönheit des Bauwerks zutiefst bewegt gewesen.
Langsam ging sie weiter. In mehreren Zimmern wurden Kunstwerke sowie antike und mittelalterliche Dinge – Alltagsgegenstände, Urkunden, Schmuck, Waffen und vieles mehr – ausgestellt. Alles war so angeordnet, dass es hervorragend zu Einrichtung und Architektur der Räume passte. Lord Bradington hatte etwas geschaffen, das mit seiner Vielfalt und Harmonie direkt Lilys Herz ansprach.
Sie war so in die Betrachtung der Wunder ringsumher versunken, dass sie zunächst gar nicht bemerkte, wie andere Gäste sich zu ihr gesellten. Dann sagte jemand: „Lord Bradington möchte, dass wir in die Bildergalerie kommen.“
Lily zuckte zusammen und schaute sich verwirrt um. Ihr Blick fiel auf Minerva, und gemeinsam folgten die Freundinnen den anderen.
Auf einem Podium stand ein kleiner unauffälliger Mann. Der Gastgeber. Im ersten Moment war Lily enttäuscht. Den Sammler von so viel Schönheit hatte sie sich anders vorgestellt. Doch dann begann er zu sprechen, und sie vergaß sein Äußeres. Seine Stimme klang angenehm dunkel, seine Worte waren liebenswürdig und klug.
Nach einem herzlichen Willkommensgruß und ein paar einleitenden Worten erklärte er: „Die
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