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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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als die vier trostlosen Wände ihm zu viel wurden, auf den Straßen der Hauptstadt. Er lief die Oxford Street einmal hoch und runter, ohne den Schaufenstern Beachtung zu schenken, dann in den Hyde Park, wo Soldaten exerzierten. Er beobachtete sie mit einem kritischen Auge: hoch und runter, hoch und runter. Scheinbar nahmen sie ihre Umgebung gar nicht wahr. Soldaten interessierten ihn nicht sonderlich, und Mitleid hatte er schon gar nicht mit ihnen. Im Krieg gab es immer Verletzte, und es hatte fatale Folgen, wenn man dem Feind Gedanken und Gefühle zugestand. Der Feind war einfach nur der Feind, etwas Abstraktes oder, wenn es mehrere Personen waren, dann liefen diese genauso hohlköpfig umher wie die Soldaten hier. Über ihre Vernichtung brauchte man sich so keine Gedanken mehr zu machen. Vieh wurde schließlich tagtäglich geschlachtet, und niemand vergoss deswegen eine Träne. Ganz im Gegenteil: Geübte Schlachter wurden für ihre Arbeit gut entlohnt.
    Langsam bekam er kalte Füße. Ganz selbstsicher schlenderte er durch die Gemüsegärten entlang der Edgeware Road, bog dann rechts wieder nach Marylebone ab und ging zurück zum Haus in der Orchard Street.
    Nachdem er den Klopfer betätigt hatte, öffnete ihm wie gewohnt eine unscheinbare Person und ließ ihn eintreten. Das Haus war gut ausgestattet. Ein finanziell unabhängiger Gentleman hatte sich hier angeblich zur Ruhe gesetzt. Als Sehler das Empfangszimmer betrat, bemerkte er, dass man seit seinem letzten Besuch ein kleines Pianoforte angeschafft hatte.
    Sehler kam es so vor, als ob er in eine andere Welt eintauchte. Lärm, Schmutz und das Elend auf den Straßen konnte man hier vergessen. Seine Füße versanken in dicken Teppichen, dazu roch es angenehm nach Bienenwachs und Lavendel. Auf dem Tisch stand eine Vase mit frischen Blumen, und der Bücherstapel auf der Anrichte weckte sein Interesse. Über allem schwebte eine wohltuende Stille. Er konnte sogar das Ticken der gut gestimmten Standuhr im Gang hören. Einer der Bediensteten geleitete ihn zu dem Zimmer, das er häufig nutzte, und brachte ihm dann noch eine Tasse Tee. Das Stetige an diesem Ort - hier herrschte Ruhe, und alles funktionierte wie am Schnürchen - wirkte ungemein beruhigend, sodass er langsam wieder zu seiner gewohnten Gelassenheit zurückfand.
    Ungefähr eine halbe Stunde später sprach er mit einem der jungen Männer, die sich normalerweise um das Geschäftliche kümmerten. Sehler kannte den Mann und war froh, sich nicht gegenüber einem Fremden erklären zu müssen. Er berichtete in allen Einzelheiten, was passiert war. »Und deshalb musste ich den Ort verlassen«, sagte er abschließend. »Ich weiß, dass man mich angewiesen hatte, dort auszuharren, aber …«
    »Nein, Sie haben genau das Richtige getan«, verkündete der junge Mann, während er Sehlers Schilderungen in ein Notizbuch schrieb. »Sonst hätten Sie nichts weiter tun können.«
    »Ich habe mich stets an die Anweisungen gehalten, die man mir gab«, sagte Sehler. Er wollte niemanden beschuldigen, er meinte jedoch, er könne sich ein wenig Selbstzufriedenheit leisten.
    »Selbstverständlich. In Paris war man mit Ihren Bemühungen stets zufrieden. Ich hoffe, Sie haben auf Ihrem Weg von Waltham Abbey keine Spuren hinterlassen?«
    »Nein, ich war sehr vorsichtig.«
    »Und Ihre Sachen? Hut und Mantel sind nicht Ihre eigenen, nehme ich an?«
    Sehler starrte auf seinen verdreckten Gehrock und den demolierten Dreispitz, beides trug er seit seiner Ankunft in London. Er hatte die Dinge in einem Kaufmannsgewölbe in Clerkenwell erstanden, seine Weste, ein grellbuntes Exemplar, jedoch an anderer Stelle auf die gleiche Art erworben. Nun war er ein wenig betrübt, dass der junge Mann dies für seine übliche Aufmachung hatte halten können.
    »Nein, ich habe alles im Bolt-in-Tun in der Drury Lane gelassen, logiert habe ich dort jedoch nicht. Das erschien mir zu naheliegend.«
    »Stimmt, obwohl es manchmal wohl einfacher ist, sich in einer Menschenmenge zu verstecken.«
    »Wie dem auch sei, könnten Sie vielleicht dafür sorgen, dass man sie mir vorbeibringt? Leider habe ich keinen Penny mehr … weil ich so überstürzt hergekommen bin.«
    Der junge Mann lächelte ihn beruhigend an und meinte, er solle sich keine Sorgen machen - er würde sich um alles kümmern. Und mehr noch: Er lobte Sehler, da er sich aus einer sehr schwierigen Lage manövriert habe. »Ich gehe davon aus, in ein paar Tagen werden neue Anweisungen geschickt, vielleicht im

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