Miss Seeton riskiert alles
unheimlich, mit welcher Schnelligkeit heute die Nachrichten verbreitet wurden, wenn es auch viele andere Dinge gab, die langsamer waren. Wie die Post zum Beispiel. Natürlich konnte man Mel und Mr. Banner verstehen, die – wie sie es nannten – mit den Nachrichten Schritt halten wollten, da sie damit ihren Lebensunterhalt verdienten. Aber, gestand sie sich ein, sie war etwas enttäuscht darüber, daß sie in diesem Wirtshaus an der Landstraße in der Nähe von Wrotham Rast machten, wo sie doch schon fast zu Hause waren, keine dreißig Meilen weit weg. Natürlich war es sehr freundlich, ihr Orangeade anzubieten – sie trank einen Schluck und stellte das Glas auf die runde Tischplatte zurück –, aber es war doch nicht das gleiche wie Tee.
»Die Polizei wünscht eine Unterredung mit Derrick Kenharding .«
Der Name rief Miss Seetons schweifende Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurück. Die arme Familie! Sie hatte das Gefühl, daß sie selbst – zumindest zum Teil – für den letzten Kummer mit ihrem Sohn verantwortlich gewesen war. Als sie sich jedoch beim Abschiednehmen entschuldigen wollte, hatte Lord Kenharding ihr sehr herzlich die Hand gedrückt, Lady Kenharding hatte sie plötzlich umarmt und auf die Wange geküßt. Sie hatte ihr tatsächlich gedankt. Miss Seeton konnte sich gar nicht vorstellen, wofür.
»… mit der örtlichen Polizeidienststelle in Verbindung setzen.« Derricks Foto verblaßte. Statt dessen erschien ein anderes Gesicht.
Für Miss Seetons geübtes Auge bildeten eine abgenommene karierte Mütze und ein abgelegter Regenmantel kein Hindernis, sie erkannte den Mann sofort. O du meine Güte! Das erinnerte sie an etwas. Sie hatte es ganz vergessen. Sie kramte in ihrer Handtasche.
»Was juckt Sie denn, Miss S.«, fragte Mel. »Brauchen Sie ein Taschentuch?«
»Es geht um diesen Mann«, erklärte Miss Seeton und zeigte auf den Bildschirm. »Wissen Sie, ich wollte Deirdre fragen oder es Tom – Mr. Haley – geben. Aber über der ganzen Aufregung hatte ich es vergessen.«
»… sich erinnert, diesen Mann gesehen oder irgend etwas Ungewöhnliches auf dem Sattelplatz vor dem dritten Lauf bemerkt hat, möge die Polizei in Guildford«, die Telefonnummer erschien unter Fingers Gesicht, »oder die örtliche Polizeidienststelle benachrichtigen.«
»Was haben Sie vergessen?« fragte Thrudd.
»Was?« echote Miss Seeton.
»Es sah eher aus wie eine große…« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich an Mel. »Aber das kann es nicht gewesen sein; so was würde er kaum benutzen, nicht wahr?«
Mel fragte ungeduldig: »Was würde er nicht benutzen?«
»Eine Puderdose.«
»Unwahrscheinlich«, gab Thrudd zu. Miss Seetons Kramen in der Handtasche war offensichtlich erfolgreich. Thrudd hatte es an ihrem Gesichtsausdruck erkannt. Er beugte sich schnell vor und ergriff die Handtasche. Er tat, als suche er seinerseits etwas darin, und reichte Miss Seeton ein Taschentuch. Dann gab er ihr die Handtasche zurück. Seine Hand mit der darin verborgenen Pfeilschleuder ließ er unter den Tisch gleiten.
Mel beobachtete ihn interessiert. »Ein Handtaschendieb ist er auch noch!« bemerkte sie.
Thrudd war von seinem Fund völlig in Anspruch genommen. Er richtete die Mündung auf den Fußboden, preßte den Drücker und wurde mit einem Klicken belohnt, das er eher fühlte als hörte. Anscheinend eine Doping-Pistole. Ja, irgendeine Art Giftspritze, oder er war ein tibetischer Grunzochse. »Wo haben Sie die her?« fragte er.
Miss Seeton trug ihre eigene, etwas umständliche Version der Geschichte vor. »… und ich hob es auf, als er es fallen ließ und wegrannte«, schloß sie. Als sie aufsah, bemerkte sie, daß Fingers Bild verschwunden war. Die Meldungen waren zu allgemeinen Nachrichten des Tages übergegangen. Der Ansager beschrieb eine Finanzdebatte des Parlaments.
Thrudd war skeptisch. Alles hörte sich wie immer sehr unschuldig an. Selbst wenn man ihr zugestand, daß sie sich ernsthaft bemühte, die Dinge zu klären, so war ihr Bericht doch alles andere als genau. Er würde jede Wette eingehen, daß sie diesen Mann Finger überwachen sollte, seine Taschen nach einem Beweis durchsucht hatte und den Fall weiterverfolgen wollte, jedoch durch den Überfall daran gehindert worden war. Es konnte sein – konnte durchaus möglich sein –, daß sie es bis jetzt tatsächlich vergessen hatte. Jedenfalls schrie die Polizei nach Information. Es war daher besser, sie erhielt sie bald. Das würde, wie er mit Befriedigung
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