Miss Seeton und der Hexenzauber
liegenlassen. Miss Seeton huschte in die Küche, schnappte sich die Thermoskanne und die Sandwiches, die Martha für sie vorbereitet hatte. Ja, jetzt hatte sie aber wirklich alles beisammen, und sie konnte mit Fug und Recht behaupten, daß sie fertig und gerüstet war.
»Miss.« – »Bitte, Miss.« – »Könnten Sie bitte mal herkommen?«
Miss Seeton schlenderte von einem Kind zum anderen, diskutierte, gab Ratschläge, diskutierte wieder und besserte, wenn sie darum gebeten wurde, auch mal etwas aus. Eine Zehnjährige saß vor einem schneeweißen Blatt und starrte übers Meer. Miss Seeton hockte sich neben sie ins Gras und folgte dem Blick der Kleinen.
»Ich kann nicht malen, und ich will auch nicht«, sagte das Kind nach einer Weile.
»Nein?« Miss Seeton lächelte. »Sagt dir diese Aussicht denn gar nichts?«
»O doch«, entgegnete das Mädchen voller Inbrunst. »Für mich …« Sie hatte offenbar Mühe, sich richtig
auszudrücken. »Ich habe Worte im Kopf, keine Bilder; ich male nicht gern.«
»Dann brauchst du es auch nicht zu tun. Malen ist nur eine Möglichkeit, einen Eindruck festzuhalten und zu versuchen, anderen mitzuteilen, was man gesehen hat.
Aber es gibt noch viele andere Methoden, das zu machen.
Man kann etwas bauen oder modellieren oder mit Worten beschreiben; man kann sich sogar nur erinnern, aber das wäre vielleicht ein bißchen selbstsüchtig, weil dann kein anderer etwas davon hätte. Und man vergißt ja auch so manches wieder.«
»Sie meinen«, fragte das Mädchen eifrig, »Sie meinen, ich könnte es auch beschreiben?«
»Warum nicht?« Miss Seeton stand auf. »Es ist ein genauso gutes Mittel wie jedes andere.«
Ein kleiner Junge schien rebellieren zu wollen. Auch sein Papier war noch weiß. Miss Seeton stellte sich hinter ihn; er wurde unruhig und fing an zu zappeln.
»Bilder malen ist blöd«, erklärte er. »Ich« – er verschränkte die Hände fest ineinander – »ich bastle lieber.«
»Schön, dann mach das«, sagte Miss Seeton. Sie brachte ihm das glänzende Buntpapier, ihr Notizbuch mit den anderen Materialien, die Schere und den Klebstoff.
»Aber man kann das nicht alles basteln.« Er deutete mit einer umfassenden Geste auf die ganze Aussicht, »’s ist viel zu groß.«
»Dann mach ein Fenster mit deinen Fingern und sieh hindurch. Such dir die Stelle aus, die dir am besten gefällt, und wenn das Bild kleiner sein soll, dann streck die Arme weiter aus.«
Er versuchte es mißmutig, aber bald war sein Interesse geweckt. »Wenn man die Finger so aneinanderlegt«, machte er Miss Seeton klar, »sieht man ein richtiges Bild mit Rahmen.«
»Gut«, sagte Miss Seeton. »Dann such dir das farbige Papier aus, das in dein Bild paßt, schneid es in die richtige Form und klebe es auf dein Blatt. Dann kannst du von diesem Punkt aus weiterarbeiten.«
Der Junge warf einen argwöhnischen Blick auf die bunten Papiere. »Und woher soll ich wissen, ob ich die richtige Form ausschneide?«
»Eine Möglichkeit ist«, schlug sie ihm vor, »erst die Umrisse aufzuzeichnen.« Sie malte ein paar leichte Striche aufs Papier. »Sagen wir mal, das ist ein Grasstreifen – jetzt kannst du das Stück ausschneiden. Oder du nimmst Pauspapier.« Sie gab ihm eines.
Schon nach wenigen Minuten war der Junge eifrig bei der Arbeit. Ein paar andere wurden neugierig und neidisch. Durften sie auch Sachen auf ihr Bild kleben?
Miss Seeton ermutigte sie dazu. Sie ging zu der kleinen Schriftstellerin und spähte ihr über die Schulter.
Der Himmel und die See, das Wasser und die Luft, soweit ich seh’, auch in der Höh’.
Das Gras und die Steine große und kleine, wo ich sie nicht mehr seh’, umspült sie die See.
Die Wellen mahlen sie zu Sand. Fische schwimmen durch die Flut zu den Vögeln am fernen Strand – sie treffen sich nie.
»Das«, bemerkte Miss Seeton, »ist eines der besten Bilder, das ich je gesehen habe.«
Alle schienen im Moment beschäftigt zu sein, und Miss Seeton hatte ihre eigene Skizze auch schon gezeichnet und in die Mappe gelegt. Sie nahm ihre Handtasche und den Regenschirm und schaute sich um. Ob die Kinder ihre Bilder wohl fertig hatten, bevor der Bus sie abholte, und etwas Neues anfangen wollten? Dann mußte sie eine andere lohnende Aussicht finden. Da oben auf dem Hügel, das könnte ein guter Standpunkt sein. Als sie näherkam, sah sie, daß der Abhang steiler war, als sie vermutet hatte.
Sie benutzte ihren Schirm als Spazierstock, um auf dem abschüssigen Untergrund
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