Miss Seeton und der Hexenzauber
dunklen Kirche zu einem Geflecht verwoben hatte? Wo war er? Und vor allem: Wo war sie? Er sollte sie beschützen … Seine Pflicht war es … er wollte aufspringen. Es blieb beim Wollen. Das lockere Stuhlbein war nicht geeignet, ruckhafte Erschütterungen auszuhalten, und knickte ein.
Foxon kippte nach vorn und streckte die Arme aus, um sich abzufangen. Dabei erwischte er versehentlich den Wandteppich.
Der in trägen Pantomimen agierende König der Dämonen hielt auf den Stufen zum Altar inne – Evelyn spürte, daß er die Gläubigen in seinen Bann gezogen hatte.
Mit perfektem Timing schritt er auf den Altar zu und streckte mit einer königlichen Geste die Hand aus. Eine Kerze flammte auf und illuminierte seine glänzende Vorstellung … und die Szene eines vorgetäuschten Menschenopfers. Auf dem Altar lag eine kleine Puppe – ein Mädchen: Der türkisfarbene Umhang war unter der Puppe ausgebreitet, das laubgrüne Kleid hatte man vorne aufgeschlitzt, so daß der Körper bloßlag. Auf der Brust leuchtete ein umgekehrtes Kreuz in Rot, und der Kopf, umgeben von einem schimmernden rotgoldenen Haarkranz, war zurückgerollt – die Kehle der Puppe war durchschnitten. Der dämonische Satan blieb stehen, warf den Ziegenkopf zurück und stieß ein ersticktes Meckern aus. Zum erstenmal in seiner gesamten Bühnenlaufbahn spielte Hilary Evelyn eine Szene, die nicht im Rollenbuch stand und daher nicht geprobt war. Er hob die Hände, um eine böse Erscheinung abzuwehren – wie Macbeth vor Banquos Geist –, er wich voller Entsetzen über die Altarstufen zurück, und gerade in diesem Augenblick fiel der staubige Wandteppich mit einem Seufzen zu Boden.
Der Satan sah erschrocken auf. Über ihm in einer vom Licht vergoldeten Staubwolke schwebte eine Gestalt mit gekreuzten Beinen und Kapuze. In seinem abergläubischen, vom Alkohol benebelten Geist wirbelte alles durcheinander: alles, was er kürzlich über Mythologie gelesen hatte, Gestalten verschiedener Religionen und die Rollen, die er in seinem Schauspielerdasein studiert hatte. Erschien ihm Pan, oder war es Puck? Puck – Pan? Beide begannen mit einem P, und beide hatten in ihrer Zeit die Schallmauer durchbrochen.
»Pan!« kreischte er durch die Ziegenmaske. »Pan – der große, erhabene Gott Pan.« Unterwürfig beugte er den Kopf und schlug ihn sich dabei so heftig auf einer der oberen Stufen an, daß ihm hinter seiner Maske ganz mulmig zumute wurde.
»Pan.« – »Es ist Pan.« – »Der Gott.« – »Pan persönlich.«
Die Gemeinde griff den Schrei auf, einige warfen sich überwältigt auf den Boden, andere, die ängstlicheren Naturen, wichen zurück.
Foxon erkannte an den Geräuschen, daß ihm die Gegner zahlenmäßig weit überlegen waren, und sann fieberhaft nach einer Möglichkeit, wie er sich und Miss Seeton, die er auf so sträfliche Weise den Blicken aller preisgegeben hatte, aus dieser prekären Situation befreien konnte. Für den Moment waren die Teufelsanbeter vor atemloser Ehrfurcht wie erstarrt, also blieb er erst mal hinter der Säule hocken. Aber sobald sie die alte Dame in der verhüllten Gestalt erkannten, würde sich die empörte Menge auf sie stürzen und sie lynchen; auf keinen Fall würden sie es wagen, sie ungeschoren davonkommen zu lassen. Foxon war bereit, sein Leben zu geben, um sie zu verteidigen, aber konnte ein einzelner Mann sie vor diesen Wahnsinnigen retten? Jag ihnen noch mehr Angst ein, altes Mädchen, beschwor er Miss Seeton im stillen. Sag etwas – irgend etwas Magisches, flehte er. Etwas, was sie so erschreckt, daß sie die Beine in die Hand nehmen und sich aus dem Staub machen. Sein Gebet wurde erhört. Die Kapuze hob sich.
» Pan ho megas tethneke « , bemerkte Miss Seeton. Also, das waren ungewöhnliche Worte, wirklich – wie war sie nur daraufgekommen? Verwirrt wiederholte sie: » Pan ho megas tethneke. « Oh, natürlich. Jetzt erinnerte sie sich.
Die Stimme aus dem Osten im Traum der Gemahlin von Pilatus. Das war wie bei den Spielen in der Schule, in denen die Kinder Wörter assoziieren mußten. Sie wußte nicht einmal, was dieser Satz bedeutete – er war lateinisch oder vielleicht hebräisch –, aber sie erinnerte sich, daß die Stimme aus dem Osten genau das gesagt hatte. Und die Frau von Pontius Pilatus hatte sich ungeheuerlich darüber aufgeregt.
Genau wie die Teufelsanbeter. Die in der Luft verharrende Gottheit hatte ihren Namen preisgegeben und in einer fremden Sprache zu ihnen gesprochen! Ein Wunder!
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