Miss Seeton und der Hexenzauber
Merilee Paynel ihren Umhang bereits abgelegt und über eine Stuhllehne geworfen. Sie saß neben dem Kamin und starrte nachdenklich ins Feuer.
Miss Seeton legte ein Holzscheit nach, setzte sich und zog den Tisch näher.
»Es tut mir so leid«, entschuldigte sie sich noch einmal.
»Ich hätte Sie vorher fragen sollen: Es ist chinesischer Tee. Möchten Sie Zucker? Milch?« Das Mädchen kehrte in die Wirklichkeit zurück. Miss Seeton servierte den Tee und bot Kekse an, die zurückgewiesen wurden. »Offnen Sie nie«, begann Mrs. Paynel unvermittelt, »nachts Ihre Tür, wenn Sie nicht genau wissen, wer vor dem Haus steht.«
Miss Seeton war überrascht. Ungewöhnlich, daß die jungen Leute einem Ratschläge gaben. Natürlich wußte sie, daß es gut gemeint war. Und zweifellos war das eine sehr vernünftige Vorsichtsmaßnahme in London – oder wo immer Mrs. Paynel auch herkam –, aber offenbar hatte das gute Kind nicht viel Ahnung vom Leben auf dem Land, wo sich die Menschen früh schlafen legten und spätabends keine Besuche mehr machten. Es sei denn, natürlich, ungewöhnliche Umstände zwangen sie dazu, oder es lag ein Notfall vor. In diesem Fall wäre es selbstverständlich ganz falsch, es nicht zu tun. Die Tür öffnen, meinte sie. Immerhin war Mrs. Paynel selbst bei Nacht gekommen, und sie würde jetzt nicht hier sitzen, wenn Miss Seeton ihr nicht geöffnet hätte. Ihr fiel auf, daß Mrs. Paynel so gar nicht mehr dem lachenden Mädchen glich, das am frühen Abend zu diesem Ball aufgebrochen war und tanzen wollte. Es war fast, als würde jetzt eine ganz andere Frau vor ihr sitzen.
Diese andere Frau redete eindringlich auf Miss Seeton ein, beschuldigte sich selbst und versuchte, ihre Gastgeberin davon zu überzeugen, daß sie in Gefahr schwebte. Sie war nicht sehr erfolgreich mit ihren Warnungen. Als Miss Seeton vernahm, daß Miss Wicks von einem der Nuscience-Schläger angegriffen worden sei, der hier in diesem Cottage gelauert hatte, um die Besitzerin des Hauses bei ihrer Rückkehr zu ermorden, verwandelte sich ihre Skepsis in Empörung. Niemand, betonte sie, habe in ihrem Cottage auf sie gewartet – sie sei ja gar nicht hier gewesen! Und was diesen angeblichen Mordanschlag betraf, sie fand eine derartige Annahme melodramatisch und geschmacklos und außerdem lächerlich. Wer wollte sie schon ermorden?
»Für eine Kriminalbeamtin«, erwiderte Merilee
nüchtern, »sind Sie bemerkenswert naiv – oder Sie sind eine brillante Schauspielerin.«
Miss Seeton war schockiert und stellte unverzüglich klar, daß sie nicht im entferntesten mit der Polizei zu tun hatte, zumindest nicht in der Weise, wie Mrs. Paynel es sich einbildete, sondern ganz, ganz anders, wirklich. Sie zeichnete Phantombilder, setzte sie hinzu, um die Unklarheiten restlos zu beseitigen. Die Frage, ob sie in der letzten Nacht Zeichnungen von den Menschen in der Kirche angefertigt habe, verwirrte Miss Seeton, und das freimütige Geständnis ihrer Besucherin, daß sie selbst anwesend gewesen war, verstörte sie vollends.
Merilee beugte sich vor und stellte ihre Tasse, an der sie kaum genippt hatte, auf den Tisch. »Kann man jemals zurück?« fragte sie. »Wenn man alle möglichen
Dummheiten gemacht hat, kann man da noch zurück?«
Miss Seeton dachte nach. Eine sehr schwierige Frage.
Und keine, fürchtete sie, mit der sie sich schon einmal beschäftigt hatte. Im großen und ganzen gesehen, entschied sie schließlich, war es wohl nicht möglich. Oder, falls es einem doch gelang, hätte man kaum etwas gewonnen, da man dann wieder am Anfang stünde und drauf und dran wäre, dieselben Fehler noch einmal zu begehen.
Merilee ahnte, in welchem Dilemma sich Miss Seeton befand. Sie stand auf, setzte sich auf die Armlehne von Miss Seetons Sessel und lächelte.
»Sie verstehen mich nicht«, sagte sie, »und offensichtlich habe ich Sie auch falsch eingeschätzt. Aber bitte, glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß Sie in Gefahr sind. Ich weiß, wovon ich spreche.« Sie lachte bitter. »Genaugenommen bin ich selbst auch in Gefahr, wenn sie jemals erfahren, daß ich hier war, um Sie zu warnen.«
Gefahr? Allmählich machte sich Miss Seeton doch Sorgen. Selbstverständlich war es absurd anzunehmen, sie selbst wäre in irgendeiner Weise bedroht, aber sie wußte, daß andere Leute durchaus in Schwierigkeiten – und manchmal auch in ernsthafte Gefahr – geraten konnten.
»Meinen Sie damit, daß diese Menschen ernsthaft versuchen könnten, Sie zu
Weitere Kostenlose Bücher