Miss Seetons erster Fall
anscheinend zufrieden, knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in den Papierkorb. »Warten Sie einen Augenblick. Ich glaube, ich habe genau das Richtige für Sie. Es sei denn, ich hätte es weggegeben. Aber ich glaube nicht – nein, ich bin sicher, daß ich es noch habe. Das wäre genau das Richtige.« Er machte eine Tür hinter sich auf und eilte hinaus.
Der Büroraum entspannte sich in beglücktem Schweigen. Das Mobiliar schrumpfte auf seine normalen Proportionen, die Luft und Miss Seetons Kopf hörten auf zu vibrieren. Nicht lange allerdings. Das hemmungslose Geschwätz kehrte mit Mr. Trefold Morton zurück. Triumphierend hob er ein Tablettenröhrchen hoch: »Heureka, liebe Miss Seeton. Da ist es. Wenn Sie nach Hause kommen, legen Sie sich ein bißchen hin und nehmen eine davon. Es wird Ihnen wie ein Wunder vorkommen. Wie ein Wunder.«
»Sehr liebenswürdig, Mr. Morton.«
Er zuckte zusammen. »Trefold Morton. Wir benutzen den vollen Namen.«
». Mr. Trefold Morton, aber ich nehme selten Medikamente oder Drogen.«
»Drogen?« Er blähte sich auf. »Um Himmels willen, nein! Nichts dergleichen, ich versichere Sie. Homöopathisch, glaube ich. Ein Freund hat sie mir gegeben, ein sehr guter Freund, vor einiger Zeit, als die Dinge ein wenig. ein wenig kompliziert aussahen. Bei mir haben sie Wunder gewirkt. Nein, kein Wort mehr.« Er drückte ihr das Röhrchen in die Hand. »Vergessen Sie es nicht. Nehmen Sie eine, sowie Sie zu Hause sind. Und nehmen Sie ruhig wieder eine, wenn es Ihnen zuviel werden sollte, bei diesen anstrengenden Zeiten, die Sie durchmachen. Sie werden feststellen, daß sie ungemein entspannend wirken. Ungemein.«
Eine Schande. Wirklich skandalös – diese beiden Frauen vor ihr. Und noch dazu mit so lauter Stimme. Sollte sie sich das verbitten? überlegte Miss Seeton. Sollte sie ihnen sagen, daß kein Wort wahr war an dem, was sie da erzählten? Aber es wäre so peinlich, eine Szene zu machen. Und auch noch im Bus. Im Bus war so etwas besonders schlimm. Überall konnte man sagen, was man dachte und dann einfach weggehen. Aber in einem Bus war das unmöglich. Man konnte höchstens den Fahrer bitten, anzuhalten und dann aussteigen. Aber dann mußte man natürlich zu Fuß nach Hause gehen. und das war zu weit. Oder zwei Stunden auf den nächsten Bus warten. Ogottogott, sie wünschte, sie wäre auf Mr. Trefold Mortons Vorschlag mit dem Taxi eingegangen. Innerlich kochend, saß Miss Seeton da. Die Frau auf der anderen Seite hatte die Dicke mit ›Mrs. Blaine‹ angeredet. Also mußte die Dünne Miss Nuttel sein. Nigel hatte recht gehabt. Widerliche Weibsbilder. Wie konnten sie behaupten, es wäre Miss Venning gewesen, von der sie gestern nacht angegriffen worden sei. Und sie selbst – ausgerechnet sie! – hätte versucht, das Mädchen zu erschießen. Wie kamen sie bloß auf solche Hirngespinste! Nur, weil irgendein dummer Dorfjunge versucht hatte, Eier zu stehlen. Einfach skandalös, Miss Venning damit in Verbindung zu bringen.
Der Bus verlangsamte sein Tempo und hielt an der Einmündung eines Heckenweges an, um eine rundliche, frisch aussehende ältere Frau mitzunehmen, die dort wartete. Das weiße Schild vor der Hecke trug in Schwarz die Aufschrift The Meadows, und ein Pfeil wies in den Weg.
Miss Seeton stand auf und ging rasch durch den Mittelgang. The Meadows war doch das Haus, in dem die Vennings wohnten. Also konnte Plummergen nicht mehr weit sein, höchstens einen guten Kilometer. Eine Kleinigkeit, von hier aus zu Fuß nach Hause zu gehen. Was für ein Glück, daß sie das Schild gesehen hatte. Sie mußte Mrs. Venning sofort aufsuchen und ihr alles erklären. Nur dadurch ließen sich diese unheilvollen Gerüchte im Keim ersticken, ehe sie Schaden angerichtet hatten. Miss Seeton fegte an Mrs. Blaine und Miss Nuttel vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und die rundliche Frau trat zur Seite, um ihr beim Aussteigen Platz zu machen.
Mrs. Fratters sah sich überrascht um, während sie einstieg. Jemand, der Mrs. Venning besuchen wollte. Das gab Ärger. Aber es ließ sich nicht ändern. Sie hatte jetzt keine Zeit, der Unbekannten nach zu gehen und behutsam heraus zu kriegen, was sie wollte. Nein, sie mußte unbedingt Kenia-Kaffee besorgen, denn wenn Mrs. Venning nach dem Lunch keinen Kaffee bekam, gab es ebenfalls Ärger. Und für einen einzigen Vormittag hatten sie schon genug Ärger gehabt – mit Miss Angie und dem Zustand, in dem sie war.
Die Zicken sahen Miss Seeton
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