Miss Seetons erster Fall
nach, als sie rasch in den Heckenweg einbog, und wechselten vielsagende Blicke. Der Bus fuhr an. Durch das offene Fenster sprudelte ein schrilles Kichern: »Was hab’ ich dir gesagt? Der beste Beweis.«
Vom Wellenkamm ihrer Empörung wurde Miss Seeton schwungvoll vorangetragen, dann aber, noch weit vor ihrem Ziel, schmählich auf den Sand gesetzt, so daß sie von den Gegenströmungen des Zweifels hin- und hergerissen wurde.
Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, daß Mrs. Venning so weit draußen wohnte. So. so isoliert. Durchaus möglich, ja, fast wahrscheinlich, daß sie von diesem schrecklichen Getratsche gar nichts erfuhr. Oder wenigstens noch nichts erfahren hatte. Boshaftes Geschwätz zu beklagen und ein unschuldiges Opfer zu trösten war eine Sache; aber es war etwas ganz anderes, wenn das Opfer nicht wußte, daß es ein Opfer war. Wenn man erst erklären mußte, was man beklagte, ehe man es beklagen konnte. Jemand trösten zu wollen, der nicht wußte, daß er des Trostes bedurfte, würde heißen, daß man erst einmal wissen mußte, worin das Tröstliche lag und warum es nötig war, Trost zu. Ogottogott, wie kompliziert. Und peinlich, natürlich. Andererseits – wenn Mrs. und Miss Venning bis jetzt nicht wußten, was erzählt wurde, wäre es sicher besser, sie im voraus zu warnen, denn irgendwann mußten sie es ja erfahren. Man konnte damit sozusagen das Gift aus dem Stachel entfernen, ehe er ins Fleisch drang. In diesem Fall war es klar, wo die Pflicht lag. Aber dann wieder. Wer ist schon gern Überbringer schlechter Nachrichten? Ach, es gab so viele Standpunkte, von denen aus man es betrachten konnte.
Voller Zweifel ging Miss Seeton weiter und betrachtete es von allen Standpunkten. Sie kam zu einer hohen Backsteinmauer, teilweise mit Geißblatt und Efeu bewachsen. Der Weg machte eine scharfe Biegung nach rechts, führte an der Mauer entlang und endete an einem großen Holztor mit einer kleinen Nebentür. Miss Seeton ging auf die kleine Nebentür zu.
Alles machte einen abweisenden Eindruck. Man erwartete beinahe, auf eine Schildwache zu stoßen. Keine Klingel, kein Türklopfer, nicht einmal ein Briefkasten. Nur eine glatte Holztür mit einem Schnappschloß und einem ringförmigen Griff. Sie drehte den Ring, schob die Tür auf und ging über die Schwelle. Verblüfft blieb sie stehen. Sie hatte gar nicht darauf geachtet, daß es ein ziemlich windiger Tag war – erst jetzt, als die Tür zuging, fiel ihr auf, daß sich plötzlich nichts mehr regte. Was für ein Friede. Nein, Friede war nicht das richtige Wort. Stille. Ein phantasievoller Mensch hätte vielleicht gesagt ›lastende Stille‹.
Rechts ein Hof und eine Garage, links eine hübsch angelegte Rabatte mit Stauden. In der Mitte ein betonierter Pfad, der zur Rückseite eines kleinen Nebengebäudes führte. Rechts davon ein Gewächshaus, links eine hohe, beschnittene Hecke, hinter der der Pfad verschwand. Niemand zu sehen. Kein Laut. Als sie die Biegung hinter sich hatte, sah sie die. ja, das mußte es sein. die Rückfront des Hauses. Das steile Ziegeldach senkte sich tief über die niedrige Eichentür. Eine Miniatur-Schiffsglocke hing daneben. Die Fenster rechts und links waren geschlossen. Aber weiter weg stand ein Fensterflügel auf- das erste, was ihr wie ein Lebenszeichen erschien. Ob man die Schiffsglocke läutete? Oder ob man um das Haus herum zur Vorderfront ging? Woher sollte man wissen, was richtig war. In solchen alten Häusern wurde oft nur die Hintertür benutzt. Aber vielleicht war es doch korrekter, zur Vordertür zu gehen.
Die Vordertür war eine einfache Eichentür mit schwerer Klinke. Keine Klingel. Kein Klopfer. Kein Briefkasten. Wie machte das der Briefträger? Miss Seeton klopfte mit der Schirmkrücke an die Tür. Eine Weile blieb alles still, dann scharrten plötzlich Riegel. Die Klinke bewegte sich, und die Tür schwang nach außen auf, so daß Miss Seeton einen Schritt zurücktreten mußte. Eine hochgewachsene, apart, aber abgehetzt aussehende Frau blickte sie stumm und fragend an. Miss Seeton errötete vor Verlegenheit.
»O je. Bin ich an die falsche Tür gekommen?«
»Ja.«
Miss Seeton entfloh. Die Riegel wurden wieder vorgeschoben. Mrs. Venning ging durchs Haus, Miss Seeton eilte um das Haus herum, kam außer Atem an der Hintertür an, als sie gerade aufging, und sah sich vor derselben Situation: dieselbe Frau, derselbe Blick, dasselbe Schweigen. Zu dumm, sich von einer Kleinigkeit wie dem Irrtum mit der Tür nervös
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