Miss Seetons erster Fall
alles.«
Mrs. Venning wandte sich ab und ging ziellos, rastlos durch das Zimmer. Dann begann sie, in kurzen, abgehackten Sätzen zu sprechen. »Entschuldigen Sie. Ich war so grob, als Sie das erste Mal gekommen sind.«
»Aber ich bitte Sie.«
»Ich hatte Angst und machte mir Sorgen. Und ich habe Sie miß verstanden. Es war ein Fehler.« Sie lachte kurz auf. »Eben noch einer, zu den vielen schweren Fehlern, die ich gemacht habe.«
»Nicht doch«, protestierte Miss Seeton. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich wußte, daß es ein Mißverständnis war.«
»Sie haben es gewußt?«
»Ja, natürlich.« Miss Seetons Hände bewegten sich unruhig. »Niobe. Sie wissen doch«, sagte sie einfach.
Mrs. Venning ging wieder zum Kamin und setzte sich. Sie nahm den Schürhaken, und da sie schon wieder vergessen hatte, was sie damit wollte, saß sie in Gedanken verloren da und betrachtete das Werkzeug. »Niobe?« sagte sie schließlich. »Also haben Sie es doch gewußt. Die ganze Geschichte ist Ihnen bekannt.«
»Nein, bestimmt nicht«, sagte Miss Seeton rasch. »Ich habe nichts gewußt. Erst hinterher, wie ich versucht habe, Ordnung in meine Eindrücke zu bringen. Als ich Sie zeichnen wollte, ist Niobe daraus geworden.«
Mrs. Venning schwieg so lange, daß Miss Seeton schon glaubte, sie habe ihre Anwesenheit völlig vergessen. Durchaus begreiflich, daß sie allein sein wollte. Sie wäre auch nie auf die Idee gekommen, Mrs. Venning zu stören, aber es schien so wichtig, ihr zu sagen, wie es in Wirklichkeit gewesen war. Sie mußte unbedingt erfahren, daß Angela nicht gelitten hatte. Und daß man ihr keinen Vorwurf machen konnte. Vielleicht würde das den Schmerz der Erinnerung mildern, wenigstens ein bißchen. Selbstverständlich wollte sie nicht unhöflich sein, aber vielleicht konnte man ganz unbemerkt aufstehen und still fortgehen. Ja. Das wäre das Beste. Die arme Frau. So traurig, das alles. Und man fühlte sich so nutzlos, so überflüssig. Miss Seeton begann, sich vorsichtig aus dem Sessel zu erheben, doch da brach Mrs. Venning das Schweigen. Miss Seeton zuckte schuldbewußt zusammen und lehnte sich wieder zurück.
»Niobe.« Mrs. Venning lachte rauh. »Kommt dem ziemlich nahe, denke ich mir. Obwohl ich nur ein einziges Kind hatte und es nicht Eitelkeit war, was die ganze Geschichte ins Rollen gebracht hat. Es war Angst. Alle meine Fehler gehen auf Angst zurück. Wie bei den meisten Menschen. David.« Sie stockte. Einen Augenblick lang verlor ihr Gesicht die Härte, und sie sah jung aus. »David verdiente sehr gut, aber dann ist er mit dem Auto verunglückt. Wir hatten ausgegeben, was reingekommen war. Die Zukunft hatte so sicher ausgesehen, und an Sparen hatten wir nie gedacht. Angela war zwei, und ich hatte keine Berufsausbildung. Von der kleinen Lebensversicherung abgesehen, war nichts da. Und ich hatte Angst. Und da hat sich jemand, den ich gar nicht kannte, mit mir in Verbindung gesetzt und mir einen Vorschlag gemacht. Wenn ich andere dazu bringen könnte, sich an Rauschgift zu gewöhnen – ohne daß ihnen überhaupt bewußt würde, womit sie angefangen hatten –, bekäme ich pro Kopf soundsoviel.«
Miss Seeton hielt den Atem an.
»So hat man das natürlich nicht ausgedrückt. Es war in schöne Worte verpackt. Aber darauf lief es hinaus. Der einzige Mensch, an dem mir lag, war tot. Was sollte mir da an anderen liegen. Ich habe eingewilligt. Es war ganz leicht.
Man brauchte nur bei einer Party ein bißchen vergnügter zu sein als sonst, und wenn einen jemand fragte, wie man das fertigbrächte, sagte man: ›Aber liebe Frau Sowieso.‹« Boshaft imitierte sie das gesellschaftliche Gehabe vergangener Jahre: »›. haben Sie denn noch nichts davon gehört? Diese neuen Tabletten, einfach himmlisch. Warten Sie, ich gebe Ihnen ein paar.‹ Und das habe ich dann getan. Wenn jemand Kopfschmerzen hatte oder sich nicht ganz wohl fühlte: ›Aber meine Liebe, das ist ja so deprimierend, und warum denn sich quälen? Sie müssen diese neuen Tabletten probieren. Rein pflanzliches Mittel und ganz harmlos, bestimmt. Aber einfach wundervoll. Hier, nehmen Sie ein paar.‹ Und jedesmal, wenn ich ein Röhrchen losgeworden bin, hat man mich bezahlt, sehr gutbezahlt, und ich habe ein neues bekommen. Niemals bin ich gedrängt worden, ein Röhrchen weiterzugeben. Ich brauchte es nur zu tun, wenn ich wollte. Oder vielmehr, wenn ich Geld haben wollte. Niemals brauchte man sich mit einem Fall ein zweites Mal zu
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