Miss Seetons erster Fall
Und dabei wußte ich die ganze Zeit, daß ich schuld war. So, wie ich jetzt weiß, daß ich an ihrem Tod schuld bin. Darum dachte ich damals, als Sie mir dieses elende Fläschchen hinhielten, Sie seien genauso eine Närrin wie ich. Dann hatte ich Angst, Sie könnten von der Polizei sein, hätten mich auf die Probe stellen, mich ausspionieren wollen.
Erst hinterher, als ich Zeit zum Nachdenken hatte, ist mir klargeworden, daß Sie so jemand nicht sein konnten. Es war bloß ein idiotischer Zufall.« Zum erstenmal wandte sie sich direkt an ihre Besucherin: »Woher haben Sie es bekommen?«
Miss Seeton begriff nicht recht. »Die Kopfschmerztabletten? Wieso? Von meinem Anwalt.«
»Dann nehmen Sie sich einen anderen Anwalt, und gehen Sie zur Polizei. Kopfschmerztabletten!« Sie lachte höhnisch. »Die alten Tricks. Die funktionieren immer. Für Angela ist es zu spät. Für mich ist es zu spät. Aber für Sie und – andere ist es noch nicht zu spät. Gehen Sie zur Polizei.«
»Aber die Polizei weiß es doch«, sagte Miss Seeton beschwichtigend. »Ich habe es den Beamten gesagt. Oh, nicht, daß es Rauschgift war, das natürlich nicht«, setzte sie hastig hinzu, »denn das habe ich nicht gewußt, natürlich. Und dann hatte ich«, sie dachte daran, wie Mrs. Venning ihr das Röhrchen aus der Hand geschlagen hatte, »es ja auch gar nicht mehr. Wissen Sie genau, daß es welche waren? Drogen, meine ich?«
»Ganz genau. Das Fläschchen – oder Röhrchen, Sie können es nennen, wie Sie wollen – hat eigens diese Form, damit es nicht auffällt, aber nicht zu verwechseln ist.«
»Nun ja«, sagte Miss Seeton widerstrebend, »ich muß schon sagen, daß ich ihn eigentlich nicht leiden kann, den Anwalt, meine ich. Er fällt einem auf die Nerven. Aber daß jemand in einer solchen Vertrauensstellung. Rauschgift. Irgendwie finde ich das richtig empörend.« Miss Seeton erhob sich empört.
Auch Mrs. Venning stand auf. »Aber jetzt, da Sie es wissen, müssen Sie es der Polizei sagen.«
»Aber das kann ich doch nicht«, protestierte Miss Seeton. »Ohne Sie hineinzuziehen. Und das würde mir nicht im Traum einfallen. Sie haben genug Sorgen.«
»Da täuschen Sie sich. Ich habe keine Sorgen mehr. Und Sie ziehen mich in gar nichts hinein. Teilen Sie der Polizei alles mit, was ich Ihnen gesagt habe. Das erspart wahrscheinlich viele Scherereien.« Sie gab ihr die Hand. »Leben Sie wohl. Und vielen Dank. Sie waren sehr freundlich. Bitte, verzeihen Sie, daß Sie sich meine Beichte anhören mußten.«
»Und ich kann wirklich nichts für Sie tun?« fragte Miss Seeton zögernd. »Nichts, was ich für Sie erledigen könnte? Irgendeine Besorgung?«
»Nein, nichts. Vielen Dank. Oder warten Sie – doch.« Sie ging zum Schreibtisch und holte den großen Umschlag mit dem Manuskript. »Wenn Sie sowieso durchs Dorf gehen – ob Sie wohl freundlicherweise das hier zur Post geben könnten? Dann«, sie lächelte bitter, »kommt es wahrscheinlich früher an.«
»Aber gern. Bitte, bleiben Sie hier. Ich finde allein hinaus.« An der Tür blieb Miss Seeton stehen. »Und sonst ist alles in Ordnung, wirklich?« fragte sie beunruhigt.
»Bestimmt«, antwortete Mrs. Venning. »Mit der Angst ist es vorbei. Es gibt nichts mehr, wovor ich mich fürchten müßte.«
So leben die Menschen, dachte Miss Seeton. Alles so schrecklich kompliziert. Natürlich, die meisten Leute würden das Leben, das sie selbst führte, für banal und öde halten. Aber, so sagte sie sich befriedigt, wenigstens war es unkompliziert. Trotzdem hatte sie das Gefühl, daß sie der Polizei diese gräßliche Geschichte nicht erzählen konnte, ganz gleich, was Mrs. Venning sagte. Was hätte es auch für einen Zweck, jetzt noch? Es war ja alles vorbei. Und die arme Frau war bestimmt genug gestraft. Je weniger man sich in die Dinge anderer Leute einmischte, desto besser. Mit Mr. Trefold Morton allerdings – tja, das war ein bißchen schwierig. Aber bis jetzt stand noch nichts wirklich fest. Nur ihr eigenes Vorurteil. Und jetzt sollte sie etwas weitererzählen, was ihr erzählt worden war. Bloßes Gerede, das hatte die Polizei nicht gern. Höchstens konnte sie dem Superintendent gegenüber eine Andeutung machen, daß ihr gesagt worden wäre – ohne Namen zu nennen, natürlich. Die Franzosen hatten doch einen so guten Ausdruck dafür. Ah ja: on du …. Einem on dit zufolge sei er kein sehr guter Anwalt. Der Superintendent schien sich sowieso schon für Mr. Trefold Morton zu interessieren,
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