Miss Sophie, Sie können mir vertrauen
Wahrscheinlich hatte das flackernde Kerzenlicht sie getrogen. Sie zuckte mit den Schultern, legte die Armbänder ab und fing an, die Haarnadeln aus der Frisur zu ziehen. Sie konnte sich nicht erinnern, je im Leben einen so abscheulichen Abend verbracht zu haben. Wie konnte Darleston, dieser unerträgliche Kerl, es wagen, sie und ihre Mutter derart abzukanzeln? Und Helford! Er hatte jedermann deutlich vor Augen geführt, dass die kleine Schlampe seine augenblickliche Geliebte war. Und dann diese Person! Es war offenkundig genug, was er an ihr fand.
Wieder nahm Lady Lucinda eine Bewegung wahr. Erneut drehte sie sich um, sah jedoch nichts. Sobald die Zofe da war, musste sie eine Lampe anmachen, denn das Kerzenlicht war zu düster. Die Zofe hätte längst herkommen und ihr beim Auskleiden helfen müssen. Und wo blieb sie? Wie lange musste sie noch auf das faule Frauenzimmer warten?
Und dann sah sie, was sich bewegte. Mitten auf dem Bett, einen Apfel zwischen den Pfoten, saß eine Ratte. Und nicht einfach nur irgendeine Ratte. Eine dicke, fette Ratte. Eine sehr große Ratte. Sie schien nicht sonderlich durch Lady Lucindas Anwesenheit beunruhigt zu sein. Aber angesichts ihrer Größe hatte sie auch wirklich keinen Grund zur Beunruhigung. Sie saß einfach da und knabberte an dem Apfel. Ihre Augen glänzten im Kerzenlicht.
Und das war der Augenblick, in dem Lady Lucinda schrie. Beim ersten Schrei hüpfte die Ratte herum und verschwand in den vom Bettvorhang erzeugten Schatten. Lady Lucinda schrie weiter und wurde zunehmend hysterischer.
Innerhalb einer halben Minute stürzte ihre Mutter ins Zimmer. Lady Stanford hielt einen aus ihrem Schlafzimmer mitgenommenen Feuerhaken in der Hand und war sichtlich davon überzeugt, dass ihrer Tochter Gewalt angetan wurde. Sie sah sie auf einem Fauteuil stehen, so weit wie möglich vom Bett entfernt, und einen kleinen vergoldeten Stuhl schützend vor sich halten. Ein paar Sekunden später stürmte die Zofe aus dem Korridor ins Zimmer, dicht gefolgt von allen Hausgästen sowie Lady Maria, dem Butler und zwei Lakaien.
Es entstand Stimmengewirr, als jedermann versuchte, von der zitternden Dame zu erfahren, was genau sie veranlasst hatte, auf einem französischen Armsessel Schutz zu suchen. Schließlich nahm Lady Lucinda Captain Hamptons ruhige Stimme wahr. Es war ihm gelungen, die anderen Anwesenden dadurch zum Schweigen zu bringen, dass er ihnen unmissverständlich sagte, sie sollten den Mund halten.
“Kommen Sie, Lady Lucinda. Erzählen Sie uns, was Sie erschreckt hat.”
Sie hob eine zitternde Hand und wies auf das Bett. “Eine … eine Ratte! Auf … auf meinem … Bett!”
“Eine Ratte?”, rief Lady Maria ungläubig aus. “In unserem Haus gibt es keine Ratten!”
“Brrr!” Ausnahmsweise war Kate Asterfield auf Lady Lucindas Seite. “Wie schrecklich ekelhaft!”
“Eine Ratte?”, fragte Mr Asterfield, den Lady Marias Behauptung, in Helford Place gebe es keine Ratten, keineswegs überzeugt hatte.
Bainbridge, der Butler, straffte sich jedoch und erwiderte in höchst missbilligendem Ton: “Ihre Ladyschaft muss eine große Maus gesehen haben. Ich streite nicht ab, dass in diesem Raum eine Maus gewesen sein kann, aber um eine Ratte kann es sich nicht …”
Diese kategorische Behauptung wurde jäh durch einen erschreckten Ausruf unterbrochen. “Gott! Das Ding ist verdammt groß!”, sagte ein Lakai entsetzt.
Nie im Leben war Mr Bainbridge so von einem seiner Untergebenen beschämt worden. Sich umdrehend, um den Missetäter zurechtzuweisen, sah er ihn in die Höhe starren und auf den Baldachin zeigen. Der Tadel, den Mr Bainbridge hatte aussprechen wollen, erstarb ihm auf den Lippen, als er auf der Spitze des Baldachins die größte Ratte bemerkte, die er je gesehen hatte.
“Gott!”, äußerte der zweite Lakai entsetzt. “Was für ein Brocken! Bitte um Entschuldigung, Mr Bainbridge, Mylady, aber das ist ganz bestimmt keine Maus. Das ist eine Ratte!”
Alle Frauen brachen in Entsetzensschreie aus und hasteten so weit wie möglich vom Bett fort. Ausgenommen natürlich die Respekt einflößende Lady Maria, die zum Bett ging und mit wütender Miene zur Ratte hinaufstarrte.
Zufrieden, dass es sich nicht doch um eine Maus handelte, verkündete sie: “Es besteht kein Zweifel. Das ist eine Ratte. Entfernen Sie sie sofort!” Sie drehte sich um und sah finster den Butler sowie die unglücklichen Lakaien an.
“Sie entfernen?” James schien seine Stellung vollkommen
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