Miss Winbolt ist schockiert
erste Begegnung erinnerte. Sie wollte gar nicht daran denken, wie er dann reagieren würde. Hinzu kam die sonderbare Macht, die er über sie zu haben schien. Sie hatte an diesem Abend in mehr als einer Hinsicht das Gleichgewicht verloren. Als er sie auffing, hatte sie einen überwältigenden Drang verspürt, von ihm geküsst zu werden. Sie seufzte. Sie fühlte sich so stark zu ihm hingezogen, wie Rosa es sich nur irgend wünschen konnte. Wenn sie ihm doch bloß zum ersten Mal auf Lady Langleys Ball begegnet wäre, dann hätte sie vielleicht jemanden gefunden, den sie lieben lernen konnte. Nun stand das nicht mehr zur Diskussion. Niemals würde sie in seiner Gegenwart sie selbst sein können. Es war zu gefährlich. Außerdem machte es keinen Sinn, denn Sir William interessierte sich für die bei Weitem attraktivere Maria Fenton. Ein Damoklesschwert schwebte über ihrem Kopf, und Emily wusste nicht, wann es hinunterfiel.
Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden derweil wahr. Williams Ahnungen verdichteten sich, je mehr er über die Begegnung nachdachte. Er hatte das starke Verlangen nicht vergessen können, welches er für das Mädchen empfunden hatte, das vom Baum in seine Arme gefallen war. Für einen Mann, der sich selbst für beherrscht hielt, war solch intensives Begehren bereits ungewöhnlich genug. Nun hatte er dasselbe innerhalb von wenigen Wochen erneut erlebt. Diesmal in der kultivierten Atmosphäre eines Ballsaals. Und zwar nicht bei einer routinierten Sirene wie Maria Fenton, sondern bei Miss Emily Winbolt! Ich habe sie beinahe vor allen Leuten geküsst! Doch anstatt verärgert darüber zu sein, dass er sie länger und viel fester an sich gezogen hatte, als es nötig gewesen war, hatte sie den Vorfall heruntergespielt. Miss Winbolt gab ihm Rätsel auf.
In der Nacht lag er wach und dachte über ihr sonderbares Verhalten nach. Ihre Finger hatten gezittert, als sie auf seinem Arm lagen. Wovor fürchtete sie sich? Und warum schien sie ihm so vertraut, als er sie in den Armen hielt – ihre Berührung, der Duft ihrer Haare, ihre Augen … Die Augen waren ihr hervorstechendes Merkmal – klar und silbergrau wie das Wasser, das durch den Bach im Tal von Stoke Shearings floss.
Das Mädchen auf der Eiche oberhalb der Uferböschung hatte auch solche Augen … Ihm kam ein abwegiger Gedanke. Emily Winbolt und dieses Mädchen sind ein und dieselbe Person … Nein, das ist undenkbar!
Im Verlauf der Nacht verlor die Vorstellung indes zunehmend an Absurdität. Es würde eine Menge erklären, überlegte er. Ihren Widerwillen, sich mit ihm zu unterhalten, das seltsame Gefühl der Vertrautheit. Hatte er sie schon vor gestern Abend in seinen Armen gehalten? Shearings, wo die Winbolts lebten, lag nicht weit entfernt von der Stelle, wo er das Mädchen aufgefangen hatte. Außerdem war sie in diese Richtung verschwunden. Was, wenn es wahr ist …
William lächelte. Emily Winbolt, ein Musterbild an Anstand und Sitte, ließ alle Hemmungen fallen, um einen Fremden auf freiem Feld zu küssen! War sie etwa eine perfekte kleine Heuchlerin? Bis ihn der Schlaf übermannte, dachte er an Miss Winbolt und die Baumnymphe und versuchte, sich an Übereinstimmungen zu erinnern.
William hatte am nächsten Morgen eine wichtige Verabredung mit seinem Architekten in Charlwood. Doch nach der beinahe schlaflosen Nacht wollte er zuvor an der Stelle vorbeigehen, wo er dem Mädchen begegnet war, das seine Gedanken beherrschte. Schon in aller Frühe ritt er in Richtung Stoke Shearings. Erneut ließ er sein Pferd beim Gasthof und folgte dem Pfad entlang des Bachs. Das Wasser war so klar, wie er es in Erinnerung gehabt hatte, und der Abhang darüber ebenso steil. Bald kamen die Hecke und die Eiche, auf der er sie erblickt hatte, in Sicht. Er erklomm den Abhang und stellte sich unter den Baum. Jemand hatte inzwischen den abgebrochenen Ast entfernt und die Hecke in Ordnung gebracht.
„Sir, Sie denken sicher nicht daran, rüberzuklettern?“ William drehte sich um. Unter ihm auf dem Pfad stand ein Mann. „Ich rate Ihnen davon ab“, fuhr er fort. „Dahinter wartet ein bösartiges Tier.“
„Wirklich?“
„Black Samson, der Stier von Bauer Pritchard. Die gefährlichste Bestie, die es je gab.“
„Danke für die Warnung“, erwiderte William. „Ich passe auf. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
„Will Darby, zu Diensten, Sir. Ich arbeite hier in der Nähe für Mr. Winbolt.“ Er stieg den Abhang hinauf. „Ich könnte Ihnen eine Menge
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