Miss Winbolt ist schockiert
Reginald sich in die Unterredung einmischte: „Ich muss sagen, er hat sich für die Richtige entschieden.“ Er lachte leise. „Obwohl ich mich daran erinnern kann, dass die Fenton deine erste Wahl war. Von Emily Winbolt warst du gar nicht begeistert. Eine unansehnliche und eigensinnige Frau! Das war sie doch für dich.“
„Das ist sie …“, sagte William kurz angebunden.
Einige Minuten später – oder waren es Stunden? – fuhr Emily mit halsbrecherischem Tempo zurück nach Shearings. Sie ratterte über die holprigen Wege, taub und blind für alles, was sie umgab. Ihre kopflose Flucht endete erst in einiger Entfernung vom Haus. Philip und Rosa waren noch nicht zurück, aber das Personal würde sie neugierig beäugen. Sie hielt einen Moment inne und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Der Schmerz raubte ihr beinahe den Verstand. Immer wieder hämmerten sich die grausamen Worte in ihren Kopf: Unansehnlich, eigensinnig … Das ist sie. Das ist sie. Das ist sie … Emily hielt sich die Ohren zu, aber die Stimme, Williams Stimme, barsch und herablassend, verstummte nicht: Das ist sie …
„Miss Emily! Ist alles mit Ihnen in Ordnung?“
Sie blickte auf. Will Darby stand mit besorgter Miene vor dem Gig.
„Ja, W…Will. Ich habe nur gerade überlegt, was ich mit dem Gig mache. Ich möchte lieber das letzte Stück nach Shearings zu Fuß gehen.“
„Ich kann mich darum kümmern, Miss. Sind Sie ganz sicher, dass Sie sich wohl fühlen?“
Emily riss sich zusammen. „Natürlich bin ich mir sicher. Danke.“ Sie stieg vom Sitz und übergab Will Darby, der mit einem Gruß losfuhr, die Zügel.
Nachdem er sich entfernt hatte, nahm sie den Pfad, der am Bach entlangführte. Wie eine Schlafwandlerin war sie sich über ihr Ziel nicht bewusst. Doch nach ein paar Minuten hatte sie es erreicht und setzte sich in die Mulde unterhalb der Eiche. Sie schaute sich um. Als sie das letzte Mal hier war, war es ein weicher Zufluchtsort gewesen, und über ihr hatte sich ein Baldachin aus grünen Blättern erstreckt. Jetzt waren die Bäume beinahe kahl, und ihre toten Blätter lagen auf dem Boden. Es raschelte, wenn man darüber schritt. An diesem Ort hatte sie sich in eine andere Person verwandelt, war von einem Sturm der Leidenschaft überwältigt worden … Warum habe ich nicht bemerkt, dass es nur eine grausame Täuschung des Schicksals gewesen ist? Vor lauter Angst, erkannt zu werden, war ihr bei ihrer nächsten Begegnung gar nicht in den Sinn gekommen, William für einen Mitgiftjäger zu halten. Sie hatte sich sogar in ihn verliebt.
Und jetzt war alles vorbei. Wie hatte sie glauben können, er wäre anders als die anderen? Wie war doch gleich das Wort gewesen? Eigensinnig. Eine unansehnliche, eigensinnige Frau. Das ist sie … Sie schnappte nach Luft, denn der Schmerz durchstach ihre Brust wie ein Messer. Dann lächelte sie bitter. Wenigstens kann William Ashenden mich kaum als ‚kalten Fisch‘ bezeichnen wie es mein erster Verlobter getan hat!
Lange saß sie wie betäubt da, bis sie allmählich wieder von ihrer Umgebung Notiz nahm. Philip und Rosa hatten versprochen, die Kinder zurück nach Thirle zu bringen, aber sicher würden sie bald wieder zu Hause sein und sich wundern, sie nicht anzutreffen. Sie erhob sich, strich ihre Kleidung glatt und begab sich nach Shearings.
Auf dem Heimweg entschied sie, dass Rosa und Philip es erst am nächsten Tag erfahren sollten. Sie fühlte sich außerstande, sich ihren unvermeidbaren Fragen zu stellen. Außerdem würden sie wissen wollen, was mit den Kindern geschehen sollte, und sie war noch nicht in der Lage, darüber nachzudenken. Das schreckliche Gefühl, verraten worden zu sein, ließ keinen Raum für etwas anderes. Sie würde Kopfschmerzen vortäuschen und sich sofort auf ihr Zimmer zurückziehen.
Besorgt und mitfühlend ließ Rosa ihre Schwägerin in Ruhe. Emily verbrachte eine schlaflose Nacht, in der sie versuchte, sich über ihre Situation klar zu werden. William Ashenden hatte ihre Reserviertheit durchdrungen, die ihr zum Schutz vor Verletzungen zur zweiten Natur geworden war. Heute hatte er mit wenigen Worten all das Selbstwertgefühl zerstört, das sie sich mühsam erworben hatte. Wieder wurde ihr vor Augen geführt, dass sie unansehnlich war und überdies auch noch auf tragische Weise dumm! So dumm, dass sie hatte glauben können, wenigstens in den Augen eines Mannes schön zu sein.
Wie sollte sie Rosa und Philip ihre Entscheidung erklären? Wie konnte sie es
Weitere Kostenlose Bücher