Miss Wyoming
sein fehlendes Feingefühl überraschten Marilyn. Aber sie war höchst erstaunt, dass er die gehässigen Gedanken, die in den Köpfen der Juroren herumspukten, derart unverhohlen aussprach. Sie hatte sich selbst schon gefragt, ob Susans Für Elise inzwischen vielleicht zu ausgelutscht war, und bereits Vorbereitungen getroffen, sie einen Grease-Med ley singen zu lassen.
Eugene Lindsay war ein geradezu überwältigend gut aussehender Gegner für Marilyn, gegen den sie keine der anderen Mütter aufhetzen konnte. (»Also, Schätzchen«, sagte eine, zwischen Anstand und Geilheit schwankend, »von dem würd ich mich gerne mal so richtig in den Arm nehmen lassen.«) Eugene war von Beruf zwar Metereologe, aber Marilyn wusste, dass er nach seinem Tod vermutlich der größte Ford-Händler im Himmel werden würde. Er ging durchs Leben wie eine Dänische Dogge oder ein rasender Krankenwagen, der jedem, dessen Weg er kreuzte, uneingeschränkten Respekt einflößte. Er sagte bei einem NBC-Sender in Indiana abends das Wetter an und war durch seine Frau Renata, die einen Kleiderversand für Vollschlanke betrieb und nebenbei mit Haarteilen handelte, in die Welt der Schönheitswettbewerbe geraten. Am Tag vor der Wahl zur Miss American Achiever bestand Marilyn darauf, mit Susan nach Bloomington, Indiana, zu fahren, die Stadt, in der Eugene Lindsay wohnte. »Zwecks Recherche, meine Süße. Ich möchte mir mal Renatas Laden ansehen. Das wird bestimmt lustig.«
Bald sollte Susan konstatieren, dass ihre Mutter übergeschnappt war, aber noch ließ sie sich ohne Wiederrede von Marilyn nach Bloomington mitschleifen. Von einem Asteroidengürtel aus Gepäckstücken umgeben, durchschritten sie den dortigen Monroe County Airport. Marilyn achtete darauf, dass die kleinen durchsichtigen Vinylfester an den Kleidertaschen nach außen zeigten: »Damit die Leute, die uns begegnen, wissen, dass sie sich im magischen Bannkreis eines Stars befinden.«
Am Flughafen gab es keine Taxis. Eine verschworene Gemeinschaft von Kurzstreckenflug-Passagieren wuselte auf der Taxi-Insel herum und reckte unsinnigerweise die Hälse, als könnte wie in Manhattan jeden Moment eine ganze Flotte auftauchen. Bald näherte sich ein einzelner Wagen, und Marilyn stürzte sich darauf und umklammerte den Türgriff. Die anderen waren empört: »He, Sie - immer der Reihe nach.« Marilyn wirbelte herum, nahm ihre frühstückstellergroße schwarze Sonnenbrille ab, sah ihrem Kontrahenten direkt in die Augen und stieg einfach ein.
Sie checkten in ihr Hotel ein und statteten dann Renatas Laden, der ganz in der Nähe lag, einen ziemlich interessanten Besuch ab. Susan fand, dass Renata dafür, dass sie mit Gala-Roben in Übergrößen handelte, etwa so viel Fett am Körper hatte wie eine Dose Diät-Cola und drei Cashew-Nüsse. Während Marilyn mit Renata sprach, stöberte Susan am anderen Ende des Ladens herum, das zu ihrer freudigen Überraschung mit normalen Kunstgewerbeartikeln voll gestopft war.
Später am Abend, oben im Hotelzimmer, schlug Marilyn vor,
sie könnten noch ein bisschen durch die Gegend fahren.
»Wir haben doch gar kein Auto, Mom.«
»Ich hab eins gemietet, als du im Fitnessraum warst.«
»Wo fahren wir denn hin, Mom?«
»Das wirst du schon sehen.«
»Planst du etwa wieder irgendeine Schandtat, Mom?«
»Susan!«
»Alles klar. Du hast noch nicht einmal ›Süße ‹ zu mir gesagt. Immer wenn du flunkerst, lässt du die Nettigkeiten weg.«
»Ach, Süße.«
»Zu spät.«
Marilyn schürzte die Lippen und schaute ihre in eine Trainingshose und einen grauen Kapuzenpullover eingemummelte Tochter an. »Na, dann. Komm mit.« Marilyn steckte zwei Paar Gartenhandschuhe, eine Packung Mülltüten und zwei Taschenlampen ein. Sie lenkte den Wagen in die gewundenen Straßen eines Wohnviertels mit lauter Häusern im immer gleichen börsenmaklertypischen Tudor-Stil, den Susan, als sie noch jünger war, sich immer zu dem walrossbärtigen Plutokraten aus dem Monopoly-Spiel vorgestellt hatte. Mittlerweile verband sie, realistischer geworden, ein Viertel wie dieses mit Autohändlern, süßen Jungen ohne Charakter, Twinsets, regelmäßigen Mahlzeiten, in denen alle vier Nahrungsmittelgruppen enthalten sind, Weihnachtsbaumlichtern, die nicht blinken, Händen, die sich hin und wieder auf fremde Knie verirren, fröhlichen Haustieren, Einfahrten ohne Ölflecken, Frauen namens Barbara und jetzt auch Wetterfröschen von Regionalsendern des NBC.
»Hier wohnt dieser Lindsay?«,
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