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Miss Wyoming

Miss Wyoming

Titel: Miss Wyoming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
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fragte Susan, während sie aus dem Fenster auf ein Haus im Kolonialstil mit einer Dreifachgarage blickte, so bunt beleuchtet wie ein Zierschloss in einem Aquarium, umgeben von buschigen immergrünen Pflanzen, die den Lärm schluckten wie Schalltampons. »Pssst!«, Marilyn hatte die Autoscheinwerfer bereits einen Block vorher abgeschaltet. »Hilf mir mal eben, meine Süße.« Sie schlichen sich zu den Mülltonnen hinüber, und Marilyn nahm von einer den Deckel ab. »Wunderbar verschnürt. Fast wie ein Weihnachtsgeschenk. Susan - ganz leise jetzt - fass bitte mal den Müllsack mit an.« Die Tüte machte am Innenrand der Tonne ein deftiges, sattes Furzgeräusch, als Susan sie heraushievte, und sie musste lachen.
    Fünf hübsch gepackte Mülltüten wanderten in den Kofferraum und auf den Rücksitz des Wagens. Marilyn fuhr mit quietschenden Reifen los und ließ die Scheinwerfer während der ersten, fast schmerzhaft nervösen Atemzüge noch ausgeschaltet. »Und wo geht's jetzt hin?« fragte Susan. »Zu einem Wal-Mart-Parkplatz.«
    »Ein Wal-Mart-Parkplatz? Ist das nicht vielleicht ein bisschen auffällig?«
    Marilyn schaltete das Licht ein. »Genau deshalb fahren wir dorthin. Man wird uns für zwei arme Irre halten, die auf der Suche nach einem Gutschein für einen Elf-Cent-Rabatt auf irgendwelchen No-Name-Bowlingkugeln in ihrem eigenen Müll wühlen.«
    Sie hatte Recht. Sie parkte keine zehn Plätze vom Haupteingang des Supermarkts entfernt, und niemand würdigte Mutter und Tochter, die sich entschlossen wie Hebammen durch die tiefgrünen Plastiktüten wühlten, als wären es Nabelschnüre und Mutterkuchen, eines Blickes. »Wonach suchen wir eigentlich?«, fragte Susan. »Das weiß ich erst, wenn ich es vor mir habe. Immer nur eine auf einmal. Breite den Inhalt gleichmäßig auf dem Boden des Kofferraums aus. Gut. Jetzt halt deine Tüte auf, und ich tu die Sachen Stück für Stück hinein.« Marilyn musterte jeden Gegenstand eingehend. Es war wie eine Glasbodenboot-Rundfahrt durch Haus und Leben der Familie Lindsay. »Badezimmer«, sagte sie, »blutige Kleenex drei; Q-Tips, zwei; Hühneraugenpflaster, vier, fünf, sechs; Pillenfläschchen auf den Namen Lindsay, Eugene, Inhalt: Stelazine, zweimal täglich hundert Milligramm.« 
    »Was ist Stelazine?«
    »Ein starkes Antipsychotikum. Ha, das behalten wir.« Marilyns ältere Schwester, ebenfalls ihrer hinterwäldlerischen Herkunft entronnen, war schizophren und, bevor sie mitten in Portland von der Brücke über die I 5 sprang, ein pharmazeutischer Leithammel für Marilyn gewesen. »Lass uns weitermachen. Einwegrasierer: einer.«
    Dann fand Marilyn drei von einer Schicht Noxzema-Creme zusammengepappte Fotos von Eugene. »O Mann, warum muss er bloß so attraktiv sein?«
    Susan schnappte sich eins der Bilder und verschlang Eugene mit den Augen. Sie fühlte sich genauso wie damals, als sie bei der Weihnachtstombola an ihrer High-School eine Rinderseite gewonnen hatte. »Der sieht aber gut aus, was?« 
    »Das tun sie immer, Schatz, das tun sie immer.« Susan steckte das Foto heimlich in ihre Tasche, dann schauderte sie.
    »Du frierst ja, Süße.« 
    »Nein. Ja. Ein bisschen.«
    »Du redest wie Miss Montana beim Wettbewerb letzten Monat.« Marilyn lachte, und auch Susan musste lächeln. »Drück dich immer klar und eindeutig aus, Süße.« Die nächste Tüte musste aus Renatas Badezimmer stammen, sie enthielt ausschließlich hochwertige Kosmetika, die Marilyn widerwillige Bewunderung entlockten. Es folgten mehrere Tüten mit Küchenabfällen: Werbesendungen, Kaffeesatz, größtenteils ungeöffnete Behälter aus einem noblen Feinkostgeschäft und diverse Dosen mit unbeliebten Gemüsesorten - Rote Bete und Limabohnen. Eine Tüte war noch übrig: »Komm schon, Eugene! Gib mir, was ich brauche.« Es handelte sich offenbar um Büromüll: eingetrocknete Filzstifte, das Korrekturband einer Schreibmaschine, geöffnete Rechnungsumschläge von Ameritech, Chevron, PSI Energy, Indiana Gas und - »Was ist das denn?« Marilyn griff nach einem asymmetrischen Knäuel einander ähnelnder Fotokopien. Sie zog willkürlich eine heraus und begann sie laut vorzulesen: »Wenn Sie diesen Brief ignorieren, übernehmen Sie allein die Verantwortung für das, was ihnen zustoßen könnte. Eine Frau in Columbus zog es vor, diesem Brief keine Beachtung zu schenken, und eine Woche später wurde sie tot aufgefunden, Todesursache: Kohlenmonoxidvergiftung .. . ‹ Ein Kettenbrief.« Marilyn überflog das Blatt.

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