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Miss Wyoming

Miss Wyoming

Titel: Miss Wyoming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douglas Coupland
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»Gut und schön, aber warum so viele davon, Eugene? Was zum ...?« In diesem Moment wurden ihre Augen groß wie Untertassen, und ihr Gehirn schlug in ihrem Schädel Saltos wie ein Zirkus-Chihuahua. »Susan! Schau dir das an! Dieses Schlitzohr hat Hunderte von Kettenbriefen an irgendwelche Trottel im ganzen Land geschickt - auch in Kanada und Mexiko, und guck mal ... er hat sich überall an die erste Stelle gesetzt.« Susan war jung und kannte sich mit Kettenbriefen noch nicht aus. »Ja?«
    »Wenn ihm nur ein Bruchteil dieser Schwachköpfe fünfzig Dollar schickt, macht er immer noch einen Riesenreibach.« 
    »Lass mal sehen.« Susan las den Drohbrief aufmerksam durch.
    Marylin zerrte unterdessen eine Mappe hervor: »KLRT-AM Radio, San Jose, Kalifornien, DAS Talk-Radio - rund um die Uhr.« Die Mappe enthielt Namen- und Adresslisten, und hinter jeder Adresse war ein Haken. Auch von anderen Städten gab es Mappen - Toronto, Ontario; Bowling Green, Kentucky und Schenectady, New York. »Jetzt hab ich's - das sind Namen und Adressen von Radiohörern, die Marketing-Fragebögen ausgefüllt haben.«
    »Warum gerade von denen?«, fragte Susan. »Denk doch mal nach: Wenn man erstmal eine Liste von Leuten zusammen hat, die sich für Radiosendungen begeistern, bei denen die ganze Zeit nur Spinner anrufen, ist es keine große Mühe mehr, sie um fünfzig Dollar zu erleichtern. Ein Kinderspiel. Komm, hilf mir mal, diese Papiere ordentlich aufeinander zu legen. Eugene, ich liebe dich dafür, dass du mir hilfst, dein eigenes Grab zu schaufeln.«
    Sie schichteten und sortierten ihre Beute. Dann stiegen sie wieder in den Wagen, und Marilyn fuhr zu einer Mülltonne hinter einem Taco Bell und sagte: »Schmeiß den restlichen Müll da rein.« Susan nahm Eugene Lindsays frisch eingetüteten Abfall und warf ihn mit spitzen Fingern über den verrosteten grünen Rand der Tonne.
    Im Hotel ging Marilyn mit ihren Papieren Susan bald auf den Geist. Der Fernseher war kaputt. Sie legte sich aufs Bett und versuchte, in dem hüttenkäseartigen Tüpfelmuster an der Decke die Umrisse von Tieren auszumachen. »Mom, übernachten wir morgen bei einer Gastfamilie oder in einem Hotel?«
    »Im Hotel, meine Süße.« 
    »Ach.«
    »Wäre es dir lieber, wir würden bei einer Gastfamilie wohnen?«
    »Jein.« Ja, weil ihr dann ein Einblick in das Leben und. das Haus anderer Leute gewährt würde, beides unweigerlich normaler als ihr eigenes, und nein, weil sie dann auch die Gerüche der Gastfamilie ertragen, ihr Essen essen müsste und wieder mal einen Gastvater oder Gastbruder hätte, der versuchen könnte, sie anzutatschen, oder aus Versehen ins Badezimmer stürmen würde, während sie duschte, und obendrein wäre sie gezwungen, zu all dem ein sonniges Lächeln aufzusetzen. Sie musste an eine Gruppe von Frauen denken, die vor ein paar Monaten bei der Wahl zur California Young Miss in San Francisco demonstriert hatten. Sie hatten die Kandidatinnen als Vieh bezeichnet. Sie hatten den Müttern vorgeworfen, sie seien Schlachterinnen, die ihre Töchter wie Schafe zur Schlachtbank führten. Sie hatten Bikinis aus Fleisch getragen. Susan lächelte. Sie versuchte sich vorzustellen, wie rohes Fleisch sich auf ihrer Haut anfühlen mochte, feucht und rosa, wie frische Haut unter Schorf. »Mom - wie fandest du diese Fleischfrauen in San Francisco? Die mit den Steak-Bikinis.« Marilyn ließ die Papiere sinken, die sie in der Hand hielt. »Verbiesterte, frustrierte Frauen, Susan.« Adern traten an ihren Schläfen hervor. »Hörst du? Die sind verzweifelt. Absolut verzweifelt. Es gibt keinen Mann in ihrem Leben. Sie sind ausgehungert. Und missgünstig. Sie tun mir Leid. Ich bedauere sie.«
    »Sie sahen irgendwie aus, als würde es ihnen Spaß machen.« Die Heftigkeit von Marilyns Reaktion führte Susan vor Augen, dass Menschen Schädel unter ihren Gesichtern haben. Marilyn hielt Susans Entsetzen für Angst vor dem, was sie zu sagen hatte: »Nein! So was darfst du niemals denken - niemals. Verstanden?«
    »Meine Güte, Mom, das war doch bloß ein Witz.« 
    »Mit solchen Frauen wirst du niemals deine Zeit vergeuden.« Marilyn wandte sich wieder Eugene Lindsays Betrugsmanöver zu, aber ihr Körper war inzwischen offensichtlich von Stresshormonen durchflutet. Susan fühlte sich wie ein junger Wolf, der gerade den delikaten zarten Bauch des Stachelschweins entdeckt hat.
    Am nächsten Nachmittag checkten sie in das Hotel in St. Louis ein. Susan blieb oben auf dem Zimmer, um

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