Missgeburt
Ermittlungen einbezogen war und bisher ungeachtet der Tatsache, dass er Reporter ist, immer Wort gehalten hat, habe ich nichts dagegen, wenn er an diesem Gespräch teilnimmt – allerdings nur, solange alles, was hier gesprochen wird, wirklich unter uns bleibt.«
Der Coroner schob den Kopf leicht nach vorn und sah seine beiden Besucher in Erwartung ihrer Antwort aufmerksam an. Der Reporter und der Polizist beantworteten die stumme Frage
des Coroner mit einem Nicken und einem lauten und deutlichen
»Ja«.
»Also, dann mal los. Kommen Sie mit.« McLeod nahm einen großen braunen Umschlag aus einem Fach hinter seinem Schreibtisch und führte seine beiden Besucher den Gang zum Sektionssaal hinunter. Dort öffnete er die Klappe eines Kühlabteils und zog einen mit einer Nummer versehenen Plastikbeutel heraus, der zwei Körperteile enthielt: den Oberschenkel, den sie bereits gesehen hatten, und einen Ellbogen mit einem Stück des Oberarms.
»Mit etwas Glück bringt uns dieses Beweisstück möglicherweise etwas weiter als der erste Leichenfund.« McLeod zog eine Röntgenaufnahme aus dem Umschlag, den er aus seinem Büro mitgenommen hatte. Er legte den Umschlag auf den Tisch und spannte die Röntgenaufnahme in den Leuchtkasten ein. »Dieser Ellbogen ist Teil derselben Leiche, deren Oberschenkel unten in China Basin in einer Mülltonne gefunden wurde. Er stammt von einem jungen Latino. Aber jetzt sehen Sie sich das mal an. Die Bruchstelle über dem Ellbogen. Sie rührt von einer komplizierten Fraktur her, die operativ behandelt worden ist, allerdings nicht hier in den Vereinigten Staaten, sondern in Mexiko. Das lässt sich an der Operationstechnik erkennen. Und daraus wiederum können wir schließen, dass sich dieser junge Mann den Arm in Mexiko gebrochen hat – oder zumindest dort operiert wurde.«
»Können Sie feststellen, wie lange der Mann schon tot ist?«, fragte Bernardi.
»Das ist aufgrund der Tiefkühlung leider ausgeschlossen. Aber wir können trotzdem von Glück reden, dass ein Angler, der von einem der Piers in South of Market seine Rute ausgeworfen hat, dieses Armstück aus dem Wasser gezogen hat. Es war übrigens noch halb gefroren.«
»War das in der Nähe von China Basin?«, fragte Samuel.
»Zumindest näher an China Basin als am Golden Gate. Aber
ich würde sagen: Egal, wo das Armstück in die Bay geworfen wurde, es muss von der Strömung nach Süden getrieben worden sein; dem Zustand nach zu schließen, in dem es der Angler aus dem Wasser gezogen hat, allerdings nicht sonderlich weit. Und das ist alles, was wir im Moment wissen«, schloss der Coroner seine Ausführungen, zog die Röntgenaufnahme aus dem Leuchtkasten und steckte sie in den Umschlag zurück.
»Können Sie feststellen, ob zum Abtrennen des Arms dieselbe Säge benutzt wurde wie bei dem Oberschenkel?«, fragte Samuel.
»Ah, das hätte ich fast vergessen. Natürlich, in beiden Fällen wurde dasselbe Werkzeug benutzt. Die Sägespuren an dem Arm waren identisch mit denen, die wir an dem Oberschenkelknochen gefunden haben.«
»Jetzt müssen wir nur noch herausbekommen, wer vermisst wird«, bemerkte Bernardi.
»Wenn wir diesem jungen Mann ein Gesicht geben könnten, wäre das eine große Hilfe«, sagte McLeod. »Aber die Person, die hinter alldem steckt, ist viel zu clever, um die Fingerabdrücke oder gar den Kopf des Toten in unsere Hände fallen zu lassen. Was das angeht, würde ich mir lieber keine allzu großen Hoffnungen machen.«
»Trotzdem, wir müssen diesem Toten ein Gesicht geben«, erklärte Samuel. »Das ist das Mindeste.«
»Genau. Und das ist Ihre Aufgabe, meine Herren«, brummte der Coroner.
Das Bruno’s war ein italienisches Restaurant im 2300er-Block der Mission Street, wo sich alles traf, was innerhalb der Arbeiterbewegung Rang und Namen hatte. Diese Sonderstellung gegenüber den prätentiös-snobistischen Bars in Downtown San Francisco, in denen die proletarische Klientel des Bruno’s eher unerwünscht war, verdankte das 1940 eröffnete Lokal dem wachsenden Einfluss der Arbeiterschaft in der Stadt, die in den
dreißiger Jahren den Hafenarbeiterstreik gewonnen und dann noch einmal im Zweiten Weltkrieg einen enormen Machtzuwachs erfahren hatte. 1963 ließ das Bruno’s, was sein Äußeres betraf, zwar schon einiges zu wünschen übrig, aber dieser leicht schäbige Touch passte hervorragend zu seinem Image als Treffpunkt all jener, die es als ihre Aufgabe betrachteten, die Interessen der Unterprivilegierten San
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