Missgeburt
Dabei verletzte sich Octavio so schwer, dass er in Ihre Ambulanz eingeliefert wurde. « Darauf schilderte Samuel der Ärztin, wie die zwei Jungen nach Octavios Entlassung schließlich in San Francisco gelandet waren. »Nun hat mir sein Cousin Ramiro kürzlich erzählt, dass Octavio vor einigen Monaten spurlos verschwunden ist. Und nachdem in San Francisco vor kurzem ein junger Mann mit einer komplizierten Ellbogenfraktur ermordet wurde, drängte sich uns sofort der Verdacht auf, dass es sich bei dem unbekannten Toten um Octavio Huerta handeln könnte.«
Señora Lopez erblasste. »Und Sie sind sicher, die Leiche, die Sie gefunden haben, ist Octavio?«
»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich mich vielleicht etwas missverständlich
ausgedrückt habe, aber ich wollte Sie nicht unnötig schockieren. Wir haben keine vollständige Leiche, sondern nur ein Stück eines Oberschenkels und einen Ellbogen, an dem eine operativ behandelte Fraktur zu erkennen ist. Um nun den Toten eindeutig identifizieren zu können, benötigen wir die Röntgenaufnahmen. «
Die Frau schüttelte den Kopf und befeuchtete mit der Zunge ihre Lippen. Obwohl sie eine Weile nichts sagte, blieb Samuel nicht verborgen, dass sie über seine Bitte nachdachte. Schließlich erklärte sie: »Ich würde Ihnen gern helfen, Mr. Hamilton, aber leider haben wir die Röntgenbilder nicht hier. Die Praxis des Orthopäden, der Octavio operiert hat, befindet sich in einem anderen Teil der Stadt.«
Daraufhin berieten sie sich kurz, und schließlich fuhr Samuel mit Señora Lopez zu der Praxis des Orthopäden. Er wartete im Auto, während die Ärztin nach drinnen ging. Schon nach kurzem kam sie mit einem großen Umschlag wieder nach draußen, und sie fuhren in die Ambulanz zurück. Dort nahm sie die Röntgenbilder heraus, legte sie auf einen provisorischen Leuchtkasten und erklärte Samuel, was auf den Aufnahmen zu sehen war. »Das hier ist die Fraktur, und hier ist zu sehen, was der Arzt gemacht hat. Das ist doch, was Sie wissen wollen?«
»Ja. Das ist sogar wesentlich mehr, als ich herauszufinden gehofft hatte. Dürfte ich Sie zum Dank für Ihre Hilfe vielleicht zum Essen einladen, bevor ich nach San Francisco zurückkehre?«
Nereyda Lopez überlegte nicht lange. »Aber sicher, gern.«
Darauf verabredeten sie sich auf ihren Vorschlag hin in einem Restaurant am Marktplatz zum Abendessen.
Als sie sich wenige Stunden später an einem Tisch des gemütlichen Lokals gegenübersaßen, fragte Samuel die Ärztin: »Wie kommt es, dass Sie so eine gute ärztliche Ausbildung haben und so hervorragend Englisch sprechen?«
»Das ist ganz einfach zu beantworten. Ich wurde hier geboren,
aber als ich ein Jahr alt war, zogen meine Eltern nach Phoenix. Deshalb bin ich in den Staaten aufgewachsen und zur Schule gegangen, auch wenn wir regelmäßig Freunde und Verwandte in Mexiko besuchten. Mir entging natürlich nicht, wie massiv meine Landsleute in den öffentlichen medizinischen Einrichtungen in Phoenix benachteiligt wurden. Außerdem merkte ich, dass Sonoita eine wichtige Anlaufstation für Mexikaner war, die in die USA zu kommen versuchten.
Und unter diesen Menschen, die es aus allen Teilen Mexikos hierher verschlug, waren natürlich auch Kranke oder Verletzte, die niemanden hatten, der sich um ihre medizinische Versorgung gekümmert hätte, sodass viele von ihnen gestorben sind. Dieses menschliche Leid hat mir so lange keine Ruhe gelassen, bis ich schließlich beschlossen habe, diese Ambulanz zu gründen, in der Bedürftige eine kostenlose Behandlung erhalten. Ursprünglich habe ich die Ambulanz von Phoenix aus geleitet, aber da wir schon in kürzester Zeit enormen Zulauf bekamen, bin ich schließlich wieder hierhergezogen und habe die Leitung der Ambulanz selbst übernommen. Zum Glück gelang es mir, sowohl in Arizona als auch in Kalifornien Geldgeber zu gewinnen, die mein Projekt äußerst großzügig unterstützen. Mittlerweile gibt es sogar eine ganze Reihe amerikanischer Ärzte, die nach Sonoita kommen und eine Weile unentgeltlich für uns arbeiten. Und sobald die Gringos kamen, wollten auch die einheimischen Ärzte nicht nachstehen und fingen ebenfalls an, kostenlos Patienten zu behandeln. Nur deshalb konnte Octavio überhaupt operiert werden, als er nach seinem schweren Unfall in die Ambulanz eingeliefert wurde.«
»Sind Sie verheiratet?«, platzte Samuel unvermittelt heraus und bekam im selben Moment einen hochroten Kopf.
»Leider nein. In diesem Teil der Welt mögen
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