Missing Link
drein. »Warum ist es so wichtig, noch vor dem Äquinoktium dort zu sein?«
»Weil die Erdachse zur Ekliptik geneigt ist.«
»Was ist das alles für ein Quatsch?«, fragte Baines.
»Das ist ein bisschen schwer zu verstehen.«
»Versuch’s zu erklären«, bat Samantha.
»Die Erde rast mit über hunderttausend Stundenkilometern durch den Orbit um die Sonne, richtig? Wir alle wissen, dass die Erde ein Jahr braucht, um diesen Orbit einmal zu durchlaufen. Das merken wir genauso wie der Mensch von früher auf Grund des ständigen Jahreszeitenwechsels.«
Dorn winkte ab. »Das verstehe ich. Aber was ist mit der Neigung der Erdachse zur Ekliptik?«
»Die Erdachse ist geneigt - ungefähr 23,5 Grad zur Vertikalen. Dadurch ist der Nordpol sechs Monate pro Jahr der Sonne abgewandt, während die südliche Hemisphäre den sommerlichen Sonnenstrahlen ausgesetzt wird und umgekehrt.
Die Jahreszeiten werden durch vier entscheidende Punkte markiert, die für die alten Kulturen extrem wichtig waren«, fuhr Jack fort, zufrieden, dass ihm alle folgten. »Die Winter- und Sommersonnenwende und die Frühlings- und HerbstTagundnachtgleiche. Auf der nördlichen Hemisphäre ist die Wintersonnenwende der kürzeste Tag des Jahres, der auf den 21. Dezember fällt und der erste Tag des Winters ist. Derselbe
Tag markiert die Sommersonnenwende auf der südlichen Hemisphäre. Die Tagundnachtgleichen dagegen sind die beiden Zeitpunkte eines Jahres, an denen Tag und Nacht gleich lang sind.«
Jeder der Zuhörer rief sich die Erinnerungen im Stillen wach. Einzig die Zulus am Rand der Gruppe tuschelten weiterhin miteinander.
»Es lässt sich nur schwer vorstellen, dass die alten Kulturen diese >Kardinalpunkte< eines Jahres genau bestimmen konnten - die Tagundnachtgleichen und die Sonnenwenden. Das Unglaubliche aber ist, dass gewisse alte Völker ein seltsames Phänomen bei den Bewegungsabläufen am Himmel erkannten, das mit >Vorrücken der Tagundnachtgleiche< bezeichnet wird.«
»Das Vorrücken - die Präzession«, sagte Samantha. »Du hast darüber geschrieben, aber ich erinnere mich nicht mehr .«
»Das Vorrücken lässt sich extrem schwer beobachten und ohne empfindliche Geräte noch schwerer messen. Die Position der Erde im Verhältnis zur Sonne ändert sich im Verlauf von Tausenden von Jahren nahezu unmerklich. Diese Änderung erfolgt auf Grund der Präzession der Erdachse, die durch Kräfte verursacht wird, welche für das weitere Verstehen im Moment nicht wichtig sind. Diese Erdpräzession führt dazu, dass man meint, die Konstellationen, die man während der Tagundnachtgleiche beobachtet, würden sich, wenn auch nur ganz langsam, durch jedes Zeichen des Tierkreises bewegen. Damit wird uns gesagt, dass sich unsere Position im Weltall geändert hat. Und diese Änderung der Konstellationen nennt man Vorrücken der Tagundnachtgleiche.«
»Und die alten Völker wussten über diese Präzession Bescheid?«, fragte Dorn.
»Ja. Das taten viele Kulturen, einschließlich der Menschen, die Tiahuanaco erbauten. Sie glaubten, dass die bedeutendste Konstellation in einer bestimmten Ära diejenige sei, unter der die Sonne am Morgen der Frühlings-Tagundnachtgleiche aufgeht«, erklärte Jack. »In den letzten zweitausend Jahren ist die Sonne im Zeichen der Fische aufgegangen. Bald sind wir aus diesem Zeichen heraus, und die Sonne wird vor dem Hintergrund des Wassermanns aufgehen. Diese Rotation erfolgt ständig, aber sehr, sehr langsam.«
»Von welcher Geschwindigkeit sprechen wir?«, fragte Samantha.
»Die Erde >steht< in jeder Konstellation 2200 Jahre. Also vollzieht sie nur alle 25 776 Jahre einen vollständigen Kreis, was die Alten ein >Großes Jahr< nannten«, erklärte Jack weiter. »Das heißt, die zivilisierten menschlichen Wesen konnten entsprechend der gegenwärtigen Sichtweise nicht einmal ein Fünftel eines Großen Jahres beobachten - obwohl sie bereits über dieses Vorrücken Bescheid wussten.«
»Und ihr Tempel wurde gebaut, um dieses Phänomen zu messen?«, fragte Dorn.
»Da besteht kein Zweifel. Der Tempel von Kalasasaya diente als Uhr - ein riesiges Ding zur Zeitbestimmung mit Hilfe der Sterne. Wer auch immer den Tempel erbaute, wollte einen genauen Kalender, der ihm die exakte Position der Erde im Weltraum verriet. Die Beobachtungsplattform und die Obelisken rund um den Tempel sollten den genauen Zeitpunkt der Frühlings-Tagundnachtgleiche ermitteln. Auf diese Art - indem sie in den Himmel auf die wechselnden Konstellationen
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