Mission Munroe 03 - Die Geisel
Hier waren weniger Fußgänger unterwegs, die von ihnen Notiz nehmen konnten, aber auch die vereinzelten Passanten abseits der belebteren Straßen blieben immer wieder stehen und starrten Neeva in ihrer merkwürdigen Aufmachung an. Die Kostümierung lenkte zwar einerseits von ihrem Gesicht ab und war insofern eine effektive Verkleidung, zog andererseits aber auch alle Blicke an.
Neeva, die allem Anschein nach nicht einmal ahnte, welche Bürde sie war, stapfte ungerührt weiter, mit hoch erhobenem Kopf und breiten Schultern. Munroe ärgerte sich über ihre Begriffsstutzigkeit und stupste sie mit dem Ellbogen an. »Lass den Kopf hängen und schau nur nach unten. Es sei denn, du willst erkannt werden.«
Neeva senkte sofort den Kopf, und Munroe bog mit ihr um die nächste Ecke. Sie wollte so unberechenbar wie nur möglich bleiben, damit Lumani weiterhin gezwungen war, ihr zu folgen, und keinen Hinterhalt vorbereiten konnte.
Noch einen Häuserblock weiter, noch ein Haken in die nächste Querstraße, bis Munroe schließlich in einer schmalen Straße landete, wo die Autos nur auf einer Seite parkten, damit wenigstens eine Fahrspur für die in beide Richtungen fahrenden Autos übrig blieb. Hier fand sie, was sie gesucht hatte: ein Fahrzeug, das so unscheinbar war, dass es niemandem auffallen würde, so neu, dass es halbwegs zuverlässig war, und so alt, dass es sich kurzschließen ließ.
Und es war nicht abgeschlossen.
Munroe warf durch das Fenster einen Blick auf die Tankanzeige. Drei Viertel voll. Sie holte das Klebeband aus dem Rucksack, riss einen Streifen ab und warf Neeva den Rucksack mitsamt dem Klebeband zu. »Setz dich nach hinten«, sagte Munroe. »Und beobachte die Straße. Sag mir Bescheid, falls du neugierige oder wütende Gesichter in unsere Richtung kommen siehst.«
»Wir klauen ein Auto, mitten auf der Straße?«
Munroe öffnete die Beifahrertür und nickte mit dem Kopf in eine Richtung. »Das Konsulat ist ungefähr einen Kilometer in diese Richtung. Geh einfach los. Es dauert bestimmt nicht lang, bis das Milchgesicht dich mitnimmt.«
Neeva stieg ein.
Munroe sah nach, ob die Handbremse angezogen war, und legte den Leerlauf ein. Legte sich in den Fußraum und nahm die Plastikabdeckung unterhalb der Lenksäule ab, suchte nach den richtigen Kabeln und sagte: »Ab jetzt bist du kein unschuldiges Opfer mehr, sondern eine Komplizin. Die Leute im Konsulat haben gesehen, wie du mir freiwillig nachgegangen bist. Niemand hat dich gezwungen.«
»Warum willst du mir eigentlich pausenlos Angst einjagen?«, entgegnete Neeva. »Ich bin mir über die Konsequenzen voll und ganz im Klaren.«
Munroe zerrte an den Kabeln. »Wollte nur sichergehen«, sagte sie. »Damit du weißt, dass es zwischen Tod und Freiheit noch eine andere Möglichkeit gibt. Und die ist unter Umständen alles andere als ein Vergnügen.«
Neeva schnaufte nur, während Munroe sich einen Streifen Klebeband auf die Stirn klebte und mit Hilfe ihrer Fingernägel und Zähne Kabel trennte und die Isolierung abschälte. Mit mehr Erfahrung wäre das Ganze vermutlich schneller gegangen, aber es war schon eine Weile her, seit sie und Logan – jung und dämlich, wie sie damals waren – an den Autos anderer Leute ihre anarchistischen Tendenzen ausgelebt hatten.
Der Anlasser sprang an. Munroe verband die Kabelenden mit dem Klebeband, rutschte unter dem Lenkrad hervor und setzte sich ans Steuer. Beugte sich auf die rechte Seite und zog die Beifahrertür zu. Legte den ersten Gang ein. Wenn sie Glück hatten, kamen sie ohne anzuhalten von hier bis nach Mailand, und sie musste die Prozedur nicht noch einmal veranstalten. Und die Grenze lag nur vierzig Minuten entfernt. Jetzt, wo Munroe sicher sein konnte, dass Neeva nicht ständig an die Fensterscheiben klopfen und jeden, der in ihre Nähe kam, um Hilfe anbetteln würde, konnten sie die Autobahn nehmen, sodass sie wahrscheinlich schon in Italien waren, bevor das Auto überhaupt als gestohlen gemeldet wurde.
Munroe sah in den Rückspiegel und fuhr los. Dann sagte sie: »Wenn du den Rucksack ganz nach hinten stopfst, kannst du nach vorne kommen.«
Neeva verstaute den Rucksack hinter der Rückbank und zwängte sich dann zwischen den beiden Vordersitzen hindurch auf den Beifahrersitz. Das Jackett und das Puppenkleid verhedderten sich. »Etwas anderes zum Anziehen wäre bestimmt keine schlechte Idee«, sagte sie und schnallte sich an. »Was ist denn mit dem Rucksack los, dass du ihn nicht in deiner Nähe haben
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