Mission Munroe 03 - Die Geisel
das V zwischen ihren Beinen, wartete auf die digitale Frauenstimme des Navigationsgeräts und wählte, kaum dass sie angefangen hatte zu reden, die Nummer, die sie zu Beginn ihrer Arbeit bei Capstone hatte auswendig lernen müssen. Sie verließ sich dabei mehr auf ihr Gefühl als auf ihre Augen und nahm den Blick nur kurz von der Straße, um nachzusehen, ob die Zahlen auch wirklich stimmten.
Dann drückte sie die grüne Taste und legte das Bein so lange über das Handy, bis die kurze Ansage vorbei war, zählte die Sekunden, schob das Handy wieder heraus und tippte mit dem Fingernagel denselben, abgekürzten Text wie schon die Male zuvor seitlich an das Gehäuse. All diese Vorsichtsmaßnahmen waren lästig und zeitaufwendig, aber sie erschienen ihr notwendig. Schließlich wollte sie auf keinen Fall, dass die anderen etwas merkten.
Da meldete sich Neeva von hinten. »Ich habe wirklich Hunger. Ich habe jetzt seit mehr als einem Tag nichts als eine einzige Packung Cracker gekriegt. Ich bin am Verhungern.« Munroe hatte den Kopf des Mädchens direkt hinter dem Fahrersitz platziert, damit es das Handy nicht sehen konnte. So konnte es ihre winzige Überlebenschance weder absichtlich noch versehentlich zunichtemachen. Außerdem war es ihr dadurch leichter gefallen, Neevas gelegentliche Bitten um Essen und Trinken zu ignorieren.
Munroe hielt ihre Finger still und warf einen schnellen Blick auf das Handy. »Ich kann dir nichts geben«, erwiderte sie, obwohl es eindeutig eine Botschaft für Bradford war. »Wir dürfen nicht ohne Erlaubnis anhalten. Und nur für den Fall, dass dir das immer noch nicht klar ist, obwohl du den Scharfschützen auf dem Dach gesehen hast: Wir werden verfolgt und überwacht.«
Die Reaktion war Schweigen.
Die Hände fest ins Lenkrad gekrallt hoffte Munroe inständig, dass Neeva weiterredete, dass sie etwas sagte, irgendetwas, das ihr die Gelegenheit gab, unauffällig noch mehr Einzelheiten preiszugeben.
Stattdessen hörte sie ein Schniefen.
Munroe dachte nach, legte sich etwas zurecht, wollte gerade anfangen zu sprechen, da sagte Neeva mit tränenerstickter Stimme: »Kannst du nicht wenigstens mal fragen?«
Schauspielerin hin oder her, diese Worte waren einfach perfekt.
»Ein kleines bisschen Fasten wird dich nicht gleich umbringen«, erwiderte Munroe. »Ich schätze, wir haben höchstens noch fünf, sechs Stunden Fahrt vor uns. Wenn wir zwischendurch noch eine kleine Pause einlegen, sind wir irgendwann am Vormittag da. Danach bist du nicht mehr mein Problem. Dann kannst du den, der dich übernimmt, um Essen anbetteln.«
Verstohlen warf Munroe noch einen Blick auf das Telefon. Zwei Minuten und fünfzig Sekunden. Nach drei Minuten schaltete sich die Mailbox automatisch ab. Munroe unterbrach die Verbindung und schob das Handy wieder unter ihr Bein. Jetzt war alles gesagt, was sie ansonsten durch mühsames Morsen hätte weitergeben müssen. Das war ihr letzter Versuch, Kontakt aufzunehmen, so lange, bis Logan in Sicherheit oder das Mädchen abgeliefert war. Dann würde auch der Akku länger halten.
Neevas unterdrücktes Weinen wurde lauter. Es war der erste wirkliche Zusammenbruch seit dem Beginn dieser Tortur, vollkommen glaubwürdig und herzerweichend. Mitleid wallte in ihr auf und drohte die Vernunft zu besiegen. Munroe bearbeitete das Gefühl wie einen aufgehenden Hefeteig, bis der Klumpen des Mitgefühls wieder klein und leichter zu kontrollieren war.
Neevas Schniefen wurde lauter, verzweifelter, und als Reaktion darauf wuchs Munroes Missmut und ihr Ärger. Diese Reise war das, was getan werden musste, um das Leiden zu beenden. Die Augen geradeaus gerichtet, so fuhr sie weiter und blieb stumm. Ihre oberste Priorität war Logan, nichts anderes.
Neevas Jammern wurde noch ein bisschen lauter. Munroe griff nach dem Handy – Lumanis Handy – und wählte seine Nummer.
Er nahm beim ersten Klingeln ab.
»Ich mache jetzt einen kurzen Stopp. Genau fünf Minuten lang. Ich muss das Päckchen nach vorn holen und ihr etwas zu essen geben.«
Lumani sagte: »Nein.«
»Setz mich nicht unter Druck.«
»Wenn du das machst«, sagte er, »und sie läuft noch einmal weg, dann ist Logan tot.« In seiner Stimme schwang etwas mit, was sie unter anderen Umständen als Besorgnis interpretiert hätte.
»Sie wird nichts versuchen«, erwiderte Munroe.
Nach einer langen Pause sagte Lumani: »Auf deine Verantwortung.«
»Verstanden.« Lumanis Worte hatten Munroe etwas verraten, was er niemals bewusst
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