Mission Munroe. Die Sekte
Beobachtete. Und wieder sah sie den Beweis, so offensichtlich, in der Art und Weise, wie er sie berührte und mit ihr sprach, in Hannahs Widerwillen und der Angst in ihrem Blick.
Dieser Mann, der Leiter dieser Kommune, Hannahs Ersatzvater, Autoritätsfigur, Lehrer und geistlicher Führer im Herrn, das war der Mann, der sie missbrauchte. Und Hannah, die man ihren Eltern weggenommen hatte, die von ihrem Entführer verlassen und wie ein Haustier von einem Besitzer zum anderen weitergereicht worden war, hatte keinen sicheren Ort, wo sie Zuflucht finden konnte, selbst wenn sie hätte begreifen können, dass ein Verbrechen an ihr begangen wurde.
Munroes Gerechtigkeitsempfinden meldete sich kreischend zu Wort. Die Misshandlungen ihrer eigenen Kindheit erwachten zum Leben wie ein Urtier aus Lava.
Es würde nicht aufhören, auch dann nicht, wenn Hannah nicht mehr hier war. Dann würde ein anderes unschuldiges Kind ihren Platz einnehmen. Aber Munroe konnte all dem ein Ende machen. Sie konnte diesen Mann töten, heute Nacht, bevor sie die Oase verließ. Sie konnte diesen
Teufelskreis ein für alle Mal beenden. Doch je mehr Zeit verging, desto klarer wurde ihr das Problem der Selbstjustiz. Sie würde einen Teufelskreis beenden und gleichzeitig einen neuen beginnen.
Diese Menschen waren keine Fremden in irgendeiner dunklen Gasse. Elijah war Ehemann, Elternteil und Großvater. Er war Morningstars und Heidis Vater. Er war der einzige Mensch, den die Kinder hier an diesem Tisch hatten, der einzige, der verhindern konnte, dass sie neue Hannahs wurden. Die neugierigen Blicke aus den unschuldigen Augen auf der anderen Seite des Tisches machten ihr eindrücklich deutlich, welche Konsequenzen ihre Entscheidung haben würde, gleichgültig, wie sie ausfiel.
Kontrolle. Munroe rang um Selbstkontrolle. Atmen. Zuhören. Reden. Sie redeten mit ihr. Beantworte die Fragen, die sie dir stellen.
»Alles in Ordnung«, sagte sie. »Vielleicht ist mir ein bisschen schwindelig. In der Küche war es so warm.«
Kapitel 28
Den Rest des Abends nahm Munroe nur durch einen dichten Nebelschleier wahr. Sie gab routinierte Antworten auf alle möglichen Fragen und musste ihre gesamte Willenskraft aufbieten, um sich nichts von dem emotionalen Chaos, das in ihrem Inneren tobte, anmerken zu lassen.
Wie am Vortag mündete das Abendessen auch jetzt in weiterführende Diskussionen. Je länger das Gespräch andauerte, desto leerer wurde es am Tisch. Munroe beobachtete Hannah beinahe ängstlich. Sie wollte sie auf gar keinen Fall aus dem Auge lassen und wusste gleichzeitig, dass sie, wenn es so weit war, gar keine andere Wahl hatte.
Erneut kamen sie im Wohnzimmer zusammen, um zu singen und erbauliche Worte zu hören. Die ERWÄHLTEN spulten dasselbe Programm ab wie gestern, was sehr schnell ermüdend wirkte, besonders nach allem, was heute vorgefallen war. Munroe wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Sie wollte sich endlich in das oberste Stockbett legen und im Dunkeln an die Decke starren, wollte ihre Gedanken ungehindert arbeiten und analysieren lassen, während sie Hannah bewachte, so lange, bis alle eingeschlafen waren.
Nach einer abschließenden Gesangsrunde gingen die Bewohner der Oase auseinander, und Munroe begleitete Elijah in sein improvisiertes Büro. Dort gab er ihr ein neues Buch. Er schlug vor, sie solle darin lesen, bis das Licht gelöscht
wurde, und Munroe nahm seinen Vorschlag dankbar an. Nicht weil sie scharf auf die Lektüre war, sondern weil sie sich damit endlich ins Mädchenzimmer zurückziehen und in ihrem Bett Zuflucht suchen konnte.
Anders als vorhin waren die meisten Betten jetzt belegt. Die Mädchen schrieben Tagebuch, lasen oder unterhielten sich leise von Bettnachbarin zu Bettnachbarin. Es wirkte ein bisschen wie auf einem Schiff, wo jedes Besatzungsmitglied seine eigene persönliche Koje hatte. Hier und da war an einem Bettpfosten oder einem Betthimmel ein Hauch von Individualität zu erkennen, schließlich waren diese nicht einmal zwei Quadratmeter der einzige Ort im gesamten Haus, der nur einer einzigen Person gehörte. Es war, als ob das persönliche Universum der Menschen in diesem bevölkerten Haus nur bis zu den vier Ecken der eigenen Schlafstatt reichte.
Etliche Gesichter hatte Munroe bei einem ihrer vorangegangenen Besuche schon gesehen, aber Namen kannte sie keine. Sie begegneten ihr allesamt offen und freundlich, und da niemand fragte, was sie hier wollte, ging Munroe davon aus, dass sie zumindest
Weitere Kostenlose Bücher