Mission Munroe. Die Sekte
letzten Mal hatte sie Rachel mitgenommen, und Hannah hatte Rachels Arbeitsdienst übernehmen müssen. Damals war es ihr so vorgekommen, als sei Rachel etwas Besonderes,
und sie hatte, obwohl es falsch war, eine leise Eifersucht empfunden. An jenem Tag war alles, genau wie heute, total GEHEIM gewesen, mit noch mehr Heimlichtuerei und pscht-pscht als sonst. Vielleicht würde also heute genau das Gleiche passieren, was immer es sein mochte, und das gab Hannah ein gutes Gefühl, denn vielleicht bedeutete es ja, dass auch sie etwas Besonderes war.
Zadok stellte den Wagen ab, blieb jedoch sitzen, als Sunshine ausstieg. Das bedeutete wohl, dass er nicht mitkommen würde, und das war irgendwie ungewöhnlich.
Sunshine gab Hannah ein Zeichen, woraufhin auch sie ausstieg.
Sie standen vor einem fünfstöckigen Haus. Es sah alt und äußerst kostspielig aus, weswegen Hannah sich in ihren Sachen noch unwohler fühlte. Das Kleid hatte sie sich geliehen. Es war ein bisschen zu klein und hätte an einem kleinen Mädchen hübsch ausgesehen, aber Hannah war darin ziemlich unbehaglich zumute. Sunshine hatte gesagt, dass sie das anziehen sollte, und jede Diskussion im Keim erstickt. Wenigstens sah es einigermaßen neu aus und nicht so abgetragen wie Hannahs eigene Klamotten, die alle schon anderen Kindern gehört hatten.
Sunshine nahm Hannah an der Hand und zog sie mit sich. Das war ihr noch unangenehmer als das Kleid, aber sie wusste genau, dass sie sich nicht sträuben durfte. Deswegen hielt sie das Unwohlsein aus und schluckte es hinunter.
Sunshine sagte: »Süße, du möchtest doch dem Herrn dienen und ein treuer, kleiner Soldat für Jesus sein, oder?«
Hannah hasste dieses Wort klein und alles, was darin mitschwang, sie hasste es, dass Sunshine so von oben herab mit ihr sprach, als wäre sie gerade mal zwei Jahre alt, aber sie nickte.
»Das ist gut. Das bedeutet, dass Gott dich segnen kann. Er kann uns nur dann segnen, wenn wir ihm und dem PROPHETEN gehorchen, nicht wahr?«
Das Unwohlsein wurde stärker, und sie hatte einen dicken Frosch im Hals, darum nickte sie nur.
»Hier zu sein ist eine besondere Auszeichnung, und der PROPHET verlangt deine volle Hingabe und deinen Gehorsam«, sagte Sunshine. »Du musst vollkommen loslassen, und du musst auf jeden Fall Stillschweigen bewahren – es wäre Ungehorsam, über das, was heute geschieht, zu sprechen. Hast du verstanden?«
Noch ein Nicken, dieses Mal feierlich.
Sunshines Stimme wurde noch ein bisschen strenger, falls das überhaupt möglich war. »Was geschieht, wenn wir gegenüber dem Herrn und dem PROPHETEN ungehorsam sind?«
»Gott kann uns nicht segnen und uns nicht beschützen«, erwiderte Hannah. Ihre Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern.
Sunshine nickte und machte einen zufriedenen Eindruck. Hannah hätte eigentlich Erleichterung empfinden müssen, aber das war nicht der Fall. Stattdessen fühlte sie sich noch schlechter, auch wenn ihr nicht klar war, wieso eigentlich. Sunshine benahm sich schließlich nicht so, als hätte Hannah etwas Schlimmes gemacht oder als würde ihr irgendwelcher Ärger bevorstehen.
Es war nur so, dass das alles nicht richtig zusammenpasste, und das unangenehme Gefühl wurde immer stärker und schlimmer – dieses Unwohlsein, das in ihrer Magengrube seinen Ausgang nahm und sich nach außen vorarbeitete, bis alles ganz verwirrend und durcheinander war und ihr sogar das Denken und das Atmen schwerfiel. Wenn das
geschah, dann fiel ihr nichts Besseres ein, als zu gehorchen und das, was auf sie zukam, durchzustehen, so lange, bis es vorbei war und das unangenehme Gefühl wieder nachließ.
Sie hatten jetzt das Haus erreicht. Sunshine öffnete die Eingangstür und sah beim Eintreten zu Hannah hinunter. Ihr Blick war streng und erbarmungslos, und Hannah musste nicht zweimal nachdenken, um zu verstehen, was damit gemeint war. Du musst aufs Wort gehorchen, sonst kann Sunshine dir eine Menge Scherereien machen.
Im ersten Stock traf die Treppe auf einen Flur, der sich nach links und rechts erstreckte. Von diesem Flur gingen mehrere stabile Türen ab. An jeder hing ein Messingschild mit einem Firmennamen.
Sunshine hielt noch immer Hannahs Hand gepackt. Die Wärme und der Schweiß waren beinahe unerträglich, und Hannah hätte am liebsten laut geschrien oder sich losgerissen, aber sie hielt still.
Sunshine ging bis zur letzten Tür, die mit einem Schild ohne Namen, und machte sie auf. Im Zimmer stand ein großer Schreibtisch, dicht vor einem
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