Mission Munroe. Die Sekte
hatte das Gefühl, als müsste sie sich jeden Augenblick übergeben, weswegen sie das Eis einfach nur in der Hand hielt, ohne zu wissen, was sie damit anfangen sollte.
Der Mann starrte sie weiterhin an, ließ seinen Daumen weiterhin auf und ab wandern, und schließlich, als die Tropfen anfingen, ihr über die Finger zu rinnen, stand er auf, nahm ihr das schmelzende Eis ab und sagte: »Zieh das Kleid aus.«
Die Worte trafen sie wie eine Ohrfeige. Sie bedeuteten Ärger. Schlimmen Ärger. Und die unangenehmen Gefühle waren jetzt so stark, dass Hannah sich nicht von der Stelle rühren konnte.
»Liebst du deinen PROPHETEN ?«, fragte der Mann.
Hannah nickte.
»Und deine Tante hat dir doch gesagt, dass du gehorchen sollst, oder?«
Sie nickte noch einmal.
»Dann tu, was der PROPHET von dir will, und gehorche«, sagte der Mann.
Es waren die richtigen Worte, aber dass sie von diesem Außenstehenden in der LEERE gesprochen wurden, das war verwirrend. Sie spürte die unangenehmen Gefühle
jetzt von innen und von außen. Es war keine Angst, oder doch, es war Angst. Sie musste eigentlich tun, was er sagte, sie musste gehorchen, sonst schlug er sie vielleicht oder, noch schlimmer, er sagte es Sunshine, aber Hannah konnte sich immer noch nicht bewegen.
Der Mann warf das Eis in einen Mülleimer und wischte sich die Finger an der Hose ab. Er griff nach ihrer Hand und zog sie hoch, spürbar unsanfter als zuvor in dem Vorzimmer.
»Komm«, sagte er. »Ich helfe dir.«
Mit ungeduldigen Händen drehte er sie um, sodass sie ihm den Rücken zuwandte. Das, was er mit ihr machte, war nichts Neues für sie, nur außerhalb der Oase und mit diesem Mann war es neu. Er zog den Reißverschluss auf, und Hannah machte die Augen zu. Heiße Tränen brannten hinter ihren geschlossenen Lidern, aber sie würde niemals zulassen, dass sie nach draußen drangen. Sie atmete langsam und gleichmäßig und schickte ihren Geist weit, weit fort, in die verbotene und verborgene Welt ihrer Tagträume, wo nie etwas Schlimmes geschah, wo es keinen Ärger gab, wo sie etwas Besonderes war, wo man sie wirklich haben wollte und wo sie immer, immer in Sicherheit war.
Kapitel 5
Logan zog das Foto aus seiner Brieftasche und legte es auf den Tisch. Es war aufgenommen worden, als Hannah fünf Jahre alt war. Drei Tage später war sie aus ihrem Klassenzimmer abgeholt, den Flur entlang und zum Schuleingang hinausgeführt und anschließend, wie sie später erfahren hatten, über die mexikanische Grenze gebracht worden.
Gideon, der IT-Abteilungsleiter, holte ein ausgedrucktes Foto aus seiner Laptoptasche und legte es direkt neben Hannahs auf den Tisch. Das Foto war ziemlich alt, das sah man an der Frisur, an der Kleidung und an der Verfärbung, die im Lauf der Jahre eingetreten war.
»David Law«, sagte er.
Eine Brise erfasste das Blatt, hob es ein wenig an, und Gideon stellte sein Glas auf eine Ecke, damit es nicht wegfliegen konnte.
Munroes Blick wurde lebhaft, und sie griff nach dem Blatt, nach der Aufnahme von David Law. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft auf der Terrasse spürte Logan einen Hoffnungsfunken.
Das Foto von Hannah hatte sie inzwischen schon dreimal gesehen, aber David Law bekam sie zum ersten Mal zu Gesicht. Auch einem oberflächlichen Beobachter wäre aufgefallen, mit welcher Intensität sie sich die Aufnahme ansah.
Ihr Blick wanderte immer wieder zwischen David und
Logan hin und her. Sie sahen einander auffallend ähnlich: blondes Haar, grüne Augen, ähnliche Statur.
»David und ich sind nicht verwandt«, sagte Logan als Antwort auf die Frage, die sie nicht gestellt hatte, »zumindest nicht, soweit ich weiß. David war damals mit Charity zusammen – ein Sektenkind, genau wie wir. Er hat Hannah entführt und sie wieder in die Sekte zurückgebracht.«
»Wo ist Charity?«, fragte Munroe. »Warum ist sie nicht hier?«
»Sie wäre gerne gekommen«, erwiderte Logan. »Aber sie hat es nicht rechtzeitig geschafft und hat mich gebeten, sie zu vertreten. Schöne Grüße, übrigens.«
Munroe nickte.
Logan hielt inne, ordnete seine Gedanken und überlegte, wie er fortfahren sollte. Im Lauf der Jahre hatte Munroe immer wieder Bruchstücke dieser Geschichte zu hören bekommen. Zweimal war sie Charity sogar begegnet. Munroe kannte zum Beispiel einige wenige vage Einzelheiten von Hannahs Entführung. Logan hatte sich einmal während eines für ihn eher untypischen Wutausbruchs darüber beklagt, wie ungerecht das alles war. Aber abgesehen davon hatte
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