Mission Munroe. Die Sekte
ERWÄHLTEN zu verstehen,
um sich ihnen voll und ganz anpassen zu können. Eine entscheidende Voraussetzung dafür war aber, vollkommen frei von Vorurteilen und vorgefertigten Meinungen zu bleiben. Das fiel ihr angesichts dessen, was bei diesem Auftrag alles mitschwang, immer schwerer.
Als ihre Wut ein wenig abgeklungen war, stand sie auf. Langsam und leise, um Bradford nicht zu stören, holte sie sich den Laptop vom Schreibtisch und kehrte wieder in ihre kleine Nische zwischen Wand und Bett zurück. Sie fuhr den Computer hoch und schaltete die Nachttischlampe aus.
Bis zum frühen Morgen blieb ihr noch Zeit, um sämtliche Informationsadern, die sie erreichen konnte, anzuzapfen und bis auf den letzten Tropfen auszusaugen. Logans Akten waren sehr ausführlich gewesen und hatten ihr zahlreiche Fakten über die Geschichte und die Gegenwart der ERWÄHLTEN geliefert. Aber jetzt wollte sie in die Gehirne der Mitglieder eindringen, wollte verstehen, wie die ERWÄHLTEN dachten, und sich, wenn irgend möglich, speziell auf die Gruppen in Argentinien einstellen. Sie würde ihre Träume und Hoffnungen kennenlernen, ihre Ängste und das, was sie antrieb, aber das alles war nicht in historischen Zahlen und Fakten zu finden, sondern in Blogs und Kommentaren, in Geschichten und Andeutungen, die durch die unendlichen Weiten des Internets schwirrten.
Nachdem sie einmal angefangen hatte, nahm sie nichts anderes mehr wahr, konzentrierte sich so sehr auf ihre Arbeit, dass sie Bradford erst bemerkte, als er mitten im Zimmer stand. Sie nickte ihm kurz zu und richtete den Blick sofort wieder auf den Bildschirm.
»Hey«, sagte Bradford, setzte sich auf ihre Bettkante und beugte sich so weit zu ihr herunter, dass seine Nase
auf gleicher Höhe mit ihrer war. »Willst du denn gar nicht schlafen?«
Sie hob nicht einmal den Kopf. »Wäre wahrscheinlich keine gute Idee.«
»Was soll das denn heißen?« Sein Tonfall war neckisch. »Willst du etwa behaupten, ich würde nicht mit geschlossenen Augen mit deiner Schlafwandlerei fertig?«
Sie schnaubte. »Könnte ziemlich eklig werden.«
»Sag mir Bescheid, wenn du dich ein bisschen hinlegen willst. Ich passe auf dich auf.« Der spielerische Unterton war nun verschwunden. Stattdessen klang seine Stimme sanft und ernsthaft.
Munroe hob den Blick und sah ihm in die Augen, die nur wenige Zentimeter von ihren entfernt waren.
»Danke«, sagte sie aus tiefstem Herzen. »Kann sein, dass ich später mal darauf zurückkomme, aber jetzt muss ich mit diesen Recherchen hier fertig werden.« Sie warf einen Blick auf den Wecker. Vier Uhr. »Wie fühlst du dich?«, fragte sie ihn.
»Kommt darauf an. Haben wir immer noch vor, um sieben aufzustehen?«
Sie nickte.
»Dann fühle ich mich, als könnte ich noch mal drei Stunden Schlaf gebrauchen«, sagte er, stand auf und zwinkerte ihr auf seine unnachahmlich unwiderstehliche Art und Weise zu.
Munroe sah ihm nach, während er in seine Zimmerhälfte zurückkehrte. Die Schlabberhose hing ihm lose auf den Hüften, und das Spiel aus Licht und Schatten brachte seinen athletischen Oberkörper besonders gut zur Geltung. Bradford wusste, dass sie ihn beobachtete, und drehte sich zu ihr um. Sie hätte beinahe angefangen zu lachen und ließ
ihn nicht aus den Augen, bis er sich schließlich wieder hingelegt hatte.
Schon in Afrika hatte diese funkensprühende Spannung zwischen ihnen geherrscht, und sie hatte kein bisschen nachgelassen. Aber sollte aus den Funken jemals ein Feuer werden, dann war es an Munroe, es zu entfachen. Nicht weil Bradford kein Verlangen nach ihr gehabt hätte – ganz im Gegenteil, das wusste sie schon seit geraumer Zeit –, sondern weil er ihre Grenzen und ihre gemeinsame Geschichte respektierte.
Munroe musste an Noah denken, gefolgt von einem stechenden Schmerz, wie immer in letzter Zeit. Sie schob die Gedanken weg, konzentrierte sich wieder auf ihren Computer und ein paar weiterführende Links und machte noch ein paar Eintragungen in das mittlerweile fast volle Notizbuch.
Um halb acht verließen sie das Hotel. Bradford war als Beobachter dabei. Munroe ging davon aus, dass der Kleinbus irgendwann zwischen zehn und elf Uhr vor dem Lebensmittelladen auftauchen würde, und zwar von der Seite, wo die Zufahrt am einfachsten war. Aber da sie auf keinen Fall nur aufgrund einer falschen Annahme noch eine Woche verlieren wollte, versuchte sie, alle Eventualitäten im Blick zu behalten.
Um acht Uhr war die Stadt immer noch nicht richtig wach.
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