Mission Vendetta: Thriller (German Edition)
hören?«
»Keine Ahnung. Überraschen Sie mich. Erzählen Sie mir etwas über sich selbst, von dem Ort, an dem Sie aufgewachsen sind. Oder irgendwelche komischen Anekdoten. Mir kann man eigentlich relativ leicht eine Freude machen.«
»Ich kann mich an nicht viel vom Bevor erinnern.« Sie klang fast entschuldigend.
»Vom Bevor? Bevor was?«
»Spielt keine Rolle.« Sie seufzte, trank noch einen Schluck Wasser und blickte in die Wüste hinaus. Es dauerte eine Weile, bis sie das Wort wieder ergriff, und dann klang ihre Stimme anders. Weicher, ruhiger. »Sie haben mich schon einmal gefragt, wie meine Eltern gewesen sind. Ich habe es Ihnen damals nicht gesagt, weil ich mich, ehrlich gesagt, kaum an sie erinnern kann. Damals war mein Leben anders, ich war anders. Alles, was ich sehe, sind … Momentaufnahmen wie Schnappschüsse von einer Kamera. Kleine Augenblicke, die in mein Gedächtnis eingebrannt sind.«
»Was ist mit ihnen passiert?« Er konnte sich die Frage nicht verkneifen.
»Sie sind verunglückt. Bei einem Autounfall. Sie waren gerade auf dem Heimweg, als ein anderer Autofahrer die Vorfahrt missachtet und sie gerammt hat. Sie sind direkt gegen einen Baum geprallt … und gestorben. Wie bei Ihrem Vater, Sie wissen schon, so, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Jedenfalls hat man es mir so erzählt.«
Sie schloss die Augen und unterdrückte das schmerzhafte Gefühl einer schrecklichen Hilflosigkeit, das diese Erinnerung immer noch hervorrief. »Ich habe darauf gewartet, dass sie nach Hause zurückkehrten, aber das taten sie nicht«, sagte sie schließlich, als sie ihrer Stimme wieder traute. »Danach hatte ich es nur mit Polizisten, Sozialarbeitern und Männern in Anzügen zu tun, die ich nicht verstand. Es kam mir vor, als würde ich mein ganzes Leben in Büros und Konferenzräumen verbringen. Alle stellten mir unaufhörlich Fragen und sagten mir, dass alles gut werden würde und sie sich um mich kümmern würden.«
Anya saß da, mit gesenktem Kopf, die Hände in ihrem Schoß gefaltet, und schwieg, während Leonid Cherevin, der Direktor des staatlichen Waisenhauses von Atsigrezk, in dem Ordner blätterte, in dem ihr Leben dokumentiert war. Fünfzehn Jahre, auf ein Dutzend Seiten aus dünnem gelbem Papier komprimiert.
Sie hörte das Kratzen seines Federhalters. Er war fast ohne Tin te, weshalb Cherevin fester aufdrücken musste. Und manc hmal musste er ein Wort nachziehen, das nicht ordentlich geschrieben war.
»Anya, Anya … Was sollen wir nur mit dir machen?«, tadelte er sie, während er seine Notizen beendete und den Ordner zusammenklappte. »Du hast einem jungen Mann die Nase gebrochen und ihn so fest ins Gesicht gebissen, dass er für den Rest seines Lebens eine Narbe davontragen wird. Das ist ein ernster Zwischenfall. Ein sehr ernster.«
Anya sagte nichts und rührte keinen Muskel. Sie hatte nichts zu sagen. Es wäre sinnlos gewesen.
Der Mann lehnte sich zurück und beobachtete sie. Cherevin war Mitte fünfzig und hatte pechschwarzes Haar, das er ganz bestimmt färbte; davon war sie überzeugt. Aber seinen dicken Bauch konnte er ebenso wenig verbergen wie die tiefen Falten um seinen Mund und seine Augen. Er rauchte zu viel, aß zu viel und trank vermutlich auch zu viel.
Sie sah, wie etwas in seinen Händen metallisch aufblitzte. Der silberne Brieföffner, der immer auf seinem Schreibtisch la g. Zweifellos war es eine Antiquität, eine Erinnerung an die Tage, in denen mächtige Männer mit einem hohen gesellschaftlichen Status solche Brieföffner benutzten, um wichtige Dokumente und Kommuniqués zu öffnen.
So wie der Brieföffner war auch sein Büro, übermäßig dekoriert, prätentiös. Alles an dem Mann signalisierte einen Ehrgeiz, der seine Fähigkeiten bei Weitem überstieg.
»Hast du dazu nichts zu sagen?«, drängte er sie.
Sie seufzte und schloss die Augen. Er würde nicht aufhören, bis sie irgendetwas sagte, irgendeine Erklärung lieferte. Selbst wenn er sie dann ignorierte.
»Er hat versucht, mich anzugreifen.«
»Hat er dich geschlagen?«
»Nein. Er hat …« Sie schluckte, während sie errötete.
Als sie in dieses Heim gekommen war, war sie noch ein Kind gewesen, ein dürres Mädchen, aber groß für ihr Alter, ungelenk und unbeholfen. Das war sie nicht mehr. Sie hatte an Gewicht zugelegt, ihre Brüste und Hüften hatten sich ausgeformt und allmählich weibliche Formen angenommen. Den älteren Jungen waren diese Veränderungen ebenfalls aufgefallen, und heute hatte einer
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